Am Niederrhein. 15 Sekunden, die die Menschen am Niederrhein in Angst und Schrecken versetzen: Das Erdbeben von Roermond ging - zum Glück - glimpflich ab.
Es ist mitten in der Nacht, als es geschieht. Ohne Vorwarnung, plötzlich und unaufhaltsam. Am 13. April 1992, um 3.20 Uhr, bebt in der deutsch-niederländischen Grenzregion die Erde. Stühle wandern durchs Zimmer, Porzellan fällt aus den Schränken, Putz rieselt von den Decken, herabstürzende Dachziegel und Mauersteine verletzen Dutzende Menschen, Hausfassaden knicken ein, in Köln stirbt eine ältere Dame vor Schreck, bei Polizei und Feuerwehr stehen die Telefone nicht mehr still, ängstlich und besorgt rufen die Menschen an: „Alles schwankt!“
In 18 Kilometern Tiefen polterten Gesteinsplatten aneinander
Nach 15 Sekunden ist der Spuk vorbei – doch das Roermonder Erdbeben wird als eines der stärksten Beben der Neuzeit in die regionale Geschichte eingehen. In etwa 18 Kilometern Tiefe polterten Gesteinsschollen an- und übereinander – sogar in Wales, in Paris, in Tschechien waren die niederrheinischen Erdbebenwellen zu spüren. Das Epizentrum lag bei der niederländischen Stadt Roermond.
Dort sah es aus „wie nach einer Bombennacht“, so Augenzeugen. Die Straßen übersät mit Trümmern, Steinen, Dachziegeln. Allein auf deutscher Seite wurde ein Schadenshöhe von rund 150 Millionen Euro errechnet.
„Zum Glück ist trotz aller Dramatik doch noch alles relativ glimpflich ausgegangen“, sagt Dr. Klaus Lehmann, Erdbebenspezialist beim Geologischen Dienst NRW in Krefeld, Seismologe, Geophysiker. „Aber die Niederrheinische Bucht gehört zu den am stärksten durch Erdbeben gefährdeten Gebieten in Mitteleuropa“ – die Gefährdung in NRW sei aber als gering bis moderat einzustufen – dennoch: tief unter der Erde ist einiges in Bewegung. Pausenlos.
Möglicherweise zerbricht die eurasische Kontinentalplatte
Seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1980 hat der Geologische Dienst NRW mehr als 3500 Erdbeben in NRW registriert. Seit 40 Jahren beobachtet der Landeserdbebendienst die spannungsgeladenen Aktionen tief unter der dünnen Erdkruste. Die Ursache der Erdbeben, so der Karl Lehmann, ist in langfristigen und großräumigen tektonischen Vorgängen zu suchen. „Die Niederrheinische Bucht liegt auf einer Trennfuge, die ganz Europa von Norden nach Süden durchzieht. Möglicherweise zerbricht hier die eurasische Kontinentalplatte in zwei Teile, die allmählich auseinander driften. Durch die Bewegungen im Untergrund entstand in der Niederrheinischen Bucht ein Mosaik von nach Nordosten gekippten Schollen, die von tief reichenden Brüchen begrenzt sind.“
Die bedeutendsten Bruchsysteme sind von Nordost nach Südwest der Viersener Sprung, der Erft-Sprung, der Rurrand-Peelrand-Sprung und die Feldbiss-Verwerfung. Erdbeben sind ruckartige Bewegungen an diesen Bruchzonen. Das Beben von Roermond war eine plötzliche Verschiebung des Peelrand-Sprungs in der Tiefe um etwa 50 Zentimeter.
15 Messstationen in NRW beobachten das, was sich unter der Erde so regt
1997 erteilte die Landespolitik dem Geologischen Landesamt NRW (heute der Geologische Dienst NRW mit Sitz in Krefeld) die Aufgabe, Erdbeben in der Region nachzuspüren, sie zu messen, zu dokumentieren und wissenschaftlich aufzuarbeiten. Ein Jahr später war die erste Messstation - mit einer 350 Meter tiefen Spezialbohrung - fertig. Heute umfasst das Mess-Netzwerk landesweit 15 Stationen – das Rückgrat für die seismologische Überwachung im Lande. Fast in Echtzeit werden alle seismischen Daten zum zentralen Auswerterechner nach Krefeld geliefert – alle Bodenbewegungen werden aufgenommen - mit bis zu 200 Messwerten pro Sekunde.
Vorhersagen lassen sich Erdbeben in unserer Region nicht
„Läuten im Aachener Dom die Glocken, können wir das in unseren Systemen sofort erkennen“, schmunzelt Klaus Lehmann. Vorhersagen lässt sich ein Erdbeben dennoch nicht – für Frühwarnungen bleibt nicht genügend Zeit zur Übermittlung und Reaktion, da die Beben in unmittelbarer Nähe stattfinden. „Wir können aber u.a. mit Hilfe des Erdbebenalarmsystems und durch die zuverlässige Ermittlung der Erdbebengefährdung langfristig Vorsorge betreiben, damit, zum Beispiel, erdbebensicher gebaut werden kann.“ Gefährdungsabschätzungen sind für besonders sensible Bauwerke wie Kraftwerke eine wichtige Planungsgrundlage.
Vor dem Roermond-Erdbeben von 1992 hatte es mehr als 200 Jahrhunderte lang keine tektonischen Verschiebungen mit dermaßen starken Auswirkungen gegeben. Und doch, sagen die Experten, ist der Untergrund ständig in Bewegung. Auch wenn man das oben meistens nicht bemerkt. „Ende des 19. Jahrhunderts gab es innerhalb von fünf Jahren sogar drei solcher starken Beben bei uns“, sagt Dr. Bettina Dölling, Wissenschaftlerin beim Geologischen Dienst. Und in Goch bebte es auch: Am 1. September 2011 registrierten die Wissenschaftler immerhin ein Beben der Magnitude 4,4 – in einer Tiefe von sechs Kilometern.
Selbst zur Zeit Karls des Großen hat es schon heftige tektonische Verschiebungen gegeben – bei der Sanierung des Doms entdeckte man alte Unterlagen, in denen Reparaturarbeiten während der Bauzeit belegt sind, die aufgrund von Erdbebenschäden notwendig wurden.
Der jüngste Wackler: Ein Schwarmbeben im Januar 2021
Das Roermonder Beben 1992 hatte eine Magnitude von 5,9 – auf einer Skala, die bis 12 reicht. Das ist schon ordentlich ruckelig. Das Erdbebenalarmsystem NRW (EAS NRW) ging 2015 an den Start – und informiert die Leitstelle der Landesregierung und das Lagezentrum der Polizei unmittelbar nach Auftreten von Erdbeben der Magnitude 3 - oder stärker- auf der Richterskala über Lage, Stärke, Uhrzeit und Dauer des tektonischen Ereignisses.
Der jüngste für Wissenschaftler spannende Wackler ereignete sich im Januar 2021: Zahlreiche „Schwarmbeben“ mit Magnituden unter 3 schaukelten sich durchs Hohe Venn zwischen Aachen und Roetgen – verursachten aber keine Schäden. „Die Erde ist ein aktiver Planet“, sagt Karl Lehmann. „Und immer in Bewegung.“
Auf der Webseite des Geologischen Dienstes kann man sich da mal ganz gemütlich informieren – und auch seine eigenen Erdbebenbeobachtungen melden.