Essen. Vor 31 Jahren gewann Deutschland in Italien mit dem 1:0 gegen Argentinien den dritten WM-Titel - auch wegen der Leistung von Guido Buchwald.

Die Hände sind tief in den Hosentaschen vergraben, um den Hals baumelt frisch umgehängt und längst vergessen eine kleine Medaille. Der Mann steht auf dem Rasen im Olympiastadion von Rom, das ist klar. Aber genauso deutlich erkennbar wird, dass er gerade sehr weit weg ist, ganz alleine in seinem eigenen Universum. Der Kaiser regiert vor genau 31 Jahren, am 8. Juli, gegen 22 Uhr, die Fußballwelt, und Herrschende sind, so heißt es, oft einsam. Franz Beckenbauer jedenfalls schien nach dem Finale der Weltmeisterschaft 1990 in Italien wie im Auge eines Orkans zu sein, inmitten trunken-jubelnder Ekstase, während die Titelgewinner ihre Ehrenrunde vor den Fans drehten.

In einer anderen Welt: Franz Beckenbauer, der Weltmeistertrainer
In einer anderen Welt: Franz Beckenbauer, der Weltmeistertrainer © Screenshot | Screenshot

„Ich glaube, das war für ihn damals ein großer Schritt. Er war einst der beste deutsche Fußballer, wurde als Spieler Weltmeister. Nach dem Titelgewinn als Trainer hat er vermutlich viele Gedanken im Kopf gehabt, die er erst mal verarbeiten musste“, sagt WM-Spieler Guido Buchwald über seinen WM-Teamchef. Deshalb sei Beckenbauer erst einmal so nachdenklich über den Platz geschlendert.

Eine denkwürdige WM

Vorausgegangen war ein denkwürdiges Endspiel gegen Argentinien als Abschluss einer in jeder Hinsicht außerordentlichen Weltmeisterschaft.

Im Jahr vor der WM war in Deutschland die Mauer gefallen, das Land steuerte auf die Wiedervereinigung zu. Als das Trauma der Teilung überwunden werden sollte, blickten die Menschen einen Sommer lang zuversichtlich in die Zukunft. Die Deutschen schienen ungewohnt gut gelaunt, übten ein neues Nationalgefühl. Beim Endspiel waren, so vermuteten die Kommentatoren zu Beginn des Spieles, „45.000 bis 50.000 deutsche Zuschauer“ im Stadion. Es waren – seinerzeit ein Novum – wie selbstverständlich deutsche Flaggen zu sehen. Auch die (westdeutsche) Mannschaft, die bis dahin nur in Schwarz und Weiß aufgelaufen war, trug bei dem Turnier erstmals die Farben der Nationalflagge. Genauer gesagt: einen schwarz-rot-goldenen Streifen auf weißem Trikot. Land und Mannschaft strotzten da vor Selbstbewusstsein.

Schwieriger Weg zum Titel

Welch ein großer Tag: Das gesamte deutsche Aufgebot posierte in Rom mit dem WM-Pokal.
Welch ein großer Tag: Das gesamte deutsche Aufgebot posierte in Rom mit dem WM-Pokal. © picture-alliance / dpa | Unbekannt

Jedenfalls sorgte die deutsche Mannschaft bereits lange vor dem Endspiel für legendäre Momente. Für Spiele, die in den an Höhepunkten wahrlich nicht armen Annalen der Weltmeisterschaften in Erinnerung bleiben werden. Da war das Halbfinale gegen England, das im Mutterland des Fußballs über Jahrzehnte hinweg ein Elfmetertrauma tief in die Seele einer ganzen Nation einbrannte. Ein Spiel, auf das der – dem englischen Ausnahmestürmer Gary Lineker zugeschriebene – Satz zurückgeht, dass Fußball sei, „wenn 22 junge Männer 90 Minuten dem Ball hinterherrennen und am Ende Deutschland gewinnt“. Ein legendärer Spruch.

Vorausgegangen war dem Elfmeter-Krimi das Achtelfinale gegen die Niederlande, unvergesslich durch die Spuckaffäre, in der Hollands Frank Rijkaard Rudi Völler ins Haar spuckte. Das Spiel, weniger jener Aussetzer, war auch für Guido Buchwald ein wichtiger Moment: „Frank Rijkaard hatte einen Blackout, für den er sich entschuldigt hat. Das ist längst abgehakt und erledigt. Aber die Art und Weise, wie das Team nach den Platzverweisen reagiert hat, war so positiv.“

Vom "Stolperstein" zum "Tausendfüßler"

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Im Endspiel sollte Guido Buchwald eine ganz besondere Rolle zukommen. Vier Jahre zuvor war der heute 60-Jährige kurz vor der WM in Mexiko noch von Teamchef Franz Beckenbauer aussortiert worden. Medial wurde der Stuttgarter verspottet, als „Stolperstein“.

Im Finale 1990, zugleich die Revanche für das mit 2:3 verlorene Endspiel in Mexiko gegen Argentinien, spielte Buchwald wie in den Partien zuvor bei dieser WM zuverlässig. Dennoch hatten die Mitspieler ihm nach einem für seine Verhältnisse ungewöhnlichen Übersteiger bei seiner Torvorlage im Holland-Spiel den Spitznamen „Diego“ verpasst. Ex-Nationalspieler Karl-Heinz Rummenigge gab dem Defensiv-Spezialisten ein eher vergiftetes Kompliment mit: „Der spielt ein Riesenturnier, zeigt, dass er auch technisch einiges drauf hat.“

Buchwald gegen Maradona: Duell der beiden "Diegos"

Das Finale von Rom wurde jedenfalls maßgeblich durch das Duell der beiden Diegos entschieden. Der in Berlin geborene Schwabe Buchwald ließ dem Weltsportler, Weltfußballer und Jahrhundertfußballer aus Argentinien jedenfalls so wenig Raum, dass die TV-Kommentatoren Gerd Rubenbauer und Karl-Heinz Rummenigge aus dem Schwärmen kaum herauskamen, Rubenbauer erklärte Buchwald vom „Stolperstein“ zum „Tausendfüßler“, vermutlich die höchste Auszeichnung für eine Defensivkraft in Zeiten, als taktische Konzepte noch Manndecker und einen Libero vorsahen.

Ausgelassener Jubel zweier schwäbischer Weltmeister: Guido Buchwald (links) und Jürgen Klinsmann 1990 nach dem Endspielsieg gegen Argentinien.
Ausgelassener Jubel zweier schwäbischer Weltmeister: Guido Buchwald (links) und Jürgen Klinsmann 1990 nach dem Endspielsieg gegen Argentinien. © Unbekannt | Imago

Der umschwärmte Buchwald erinnert sich natürlich gerne an das Spiel, weniger an den Spitznamen: „Jetzt wieder“, sagt er auf die Frage, ob ihm der Spitzname gefallen habe. „Am Anfang war mir das gar nicht so recht, dass man mich Diego genannt hat. Ich bin Fußball-Arbeiter. Diego war ein Künstler. Inzwischen sehe ich das als witzige Auszeichnung.“ Es sei gelegentlich so, dass Menschen, denen er begegne, manchmal sein Name nicht einfalle und ihn dann Diego nennen.

Die Geschichte des Finales zum dritten Titel für Deutschland ist schnell erzählt. Beckenbauers Mannschaft dominiert ein wegen vier gesperrter Spieler ersatzgeschwächtes argentinisches Team, bekommt erst einen klaren Elfmeter nach Foul an Klaus Augenthaler nicht, später – als Konzessionsentscheidung erkennbar – einen fragwürdigen nach Foul an Rudi Völler. Andreas Brehme läuft an, schießt nicht hart, aber ungemein platziert. Deutschland bringt das 1:0 in einer ruppigen Schlussphase, an deren Ende die Argentinier nach zwei Roten Karten nur noch zu neunt auf Platz stehen, souverän zu Ende.

Sieg deutscher Tugenden?

Über den Fußball einer Zeit, die gerade mal 30 Jahre her und doch schon ewig weit weg ist, einer Zeit, als sich der Fernsehreporter Rubenbauer und der Experte Rummenigge sich zumindest vor der Fernseh­öffentlichkeit noch siezten, ist alles gesagt, wenn man hört, dass es noch die vielzitierten deutschen Tugenden waren, die den Unterschied ausmachten. „Wir wussten, dass wir die bessere Mannschaft waren. Wir wussten auch, dass wir konditionell so gut drauf waren, dass wir von Anfang Druck gemacht haben und den über 90   Minuten aufrecht erhalten konnten“, fasste Teamchef Beckenbauer das Spiel zusammen.

Am 8. Juli 1990 leuchtete der Abendhimmel klar über Rom und die deutsche Zukunft einen kurzen Moment rosarot: Jedenfalls feierte die Mannschaft, während ihr Teamchef einsam seine Runde auf dem Rasen drehte, als gäbe es kein Morgen, als gäbe es keine Sorgen.

Für Guido „Diego“ Buchwald ist es jedoch nicht das Bild des einsamen Franz Beckenbauers, das er im Kopf hat, wenn er an jenen Sommerabend denkt. Es war, sagt Buchwald, „ganz klar der Moment, in dem Lothar Matthäus den Pokal überreicht bekommen hat. Da war klar: Jetzt haben wir es geschafft. Den Pokal zu sehen und selber in der Hand halten zu können, war ein großer Moment“.

Und selbst Franz Beckenbauer wurde auf seinem einsamen Weg durch das Stadion beim Jubeln nicht vergessen, versichert Guido Buchwald: „Ach, der hat am Ende auch noch mitgefeiert.“