Herten. Deutschlands größte Stadt ohne Bahnanschluss bekommt bald einen: Herten wird Haltepunkt. Und noch eine andere Ruhrgebietsstadt kommt ans Netz.
Eine Baustelle ist immer auch ein Versprechen. Auch wenn sie gerade so aussieht: Zäune, Überwachungskameras, Schlamm, Pfützen, Fahrspuren von schwerem Gerät. Vier Mann arbeiten, ein Bagger baggert. Das Versprechen, das sie geben, steht aber auch groß auf dem Bauschild: „Neubau Haltepunkt Herten.“ Deutschlands größte Stadt ohne Bahnanschluss bekommt Bahnanschluss. Wieder. 60.000 Menschen sind bald am Zug.
Man macht sich wahrscheinlich eine falsche Vorstellung von Städten, in denen es eine „Bahnhofstraße“ gibt und auch noch eine Straße „Zum Bahnhof“: Einen Bahnhof muss es da gar nicht geben, das beweist Herten. Zumindest seit fast 40 Jahren: 1983 stellte die Bundesbahn den Personenverkehr an den Stationen in Herten-Mitte und im eingemeindeten Dorf Westerholt ein.
Die Stadt hat sich „stets für die Reaktivierung eingesetzt“
Die Begründung: Unrentabel. Zuletzt wurde das heruntergekommene Bahnhofsgebäude in Westerholt abgerissen. Nach 34 Jahren, 2017, und vielleicht doch etwas voreilig. Denn jetzt kommen beide Haltestellen wieder.
Die Stadt habe die damalige Entscheidung, den Verkehr einzustellen, bedauert „und sich stets für die Reaktivierung eingesetzt“, sagt Stadtbaurätin Janine Feldmann. Es war ja nicht nur mit dem Anschluss für Reisende schwierig: In all den einschlägigen Listen („Die zehn größten deutschen Städte ohne Bahnanschluss“) oben zu stehen, ist auf die Dauer nicht komisch.
Neuer Anschluss ist wichtig für Mobilität und Klimaschutz
Und dass als nächster Anschluss an Gleise die weltstädtische Straßenbahn-Station von Gelsenkirchen-Erle angegeben ist (“Entfernung 5,4 Kilometer“), ist es auch nicht. „Endlich können wir den zweifelhaften Ehrentitel ablegen, größte Stadt auf dem Festland Europas ohne Bahnhof zu sein“, sagt der örtliche SPD-Landtagsabgeordnete Carsten Löcker - passenderweise ist er verkehrspolitischer Sprecher seiner Fraktion.
Der fehlende Bahnhof habe den Autoverkehr begünstigt „mit all den Nachteilen für das Klima und den Flächenverbrauch“, sagt Bürgermeister Matthias Müller (parteilos). Der neue Anschluss sei wichtig für Mobilitätskonzept und Klimaschutz. Und Müller hofft, dass nun niemand mehr fortzieht, der die Schiene nutzen will oder muss. Denn der Standort wird aufgewertet. Das Image wird besser. Das Reisen wird leichter.
Das größte Infrastruktur-Projekt seit Jahren in der Stadt
6,6 Millionen Euro investiert der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr in den ersten Haltepunkt, Herten Mitte. Es ist das größte Infrastrukturprojekt seit Jahren in der Stadt. Oberleitungen werden neu errichtet, zwei Bahnsteige gebaut und die Wege dorthin angelegt; Dach, Fahrstühle, Pendlerparkplätze für Autos und Räder sollen folgen.
Das Wichtigste, die Gleise, die liegen ja, schlimmer noch: Sie werden schon längst befahren. Die S-Bahn 9 von Recklinghausen nach Bottrop und umgekehrt, selbst eine wiedereröffnete Linie, fährt seit September 2020 zweimal stündlich frech durch Herten ohne Halt - eine rollende Provokation direkt vorbei am Stadtzentrum.
Von den zehn größten Städten ohne Anschluss sind vier im Ruhrgebiet
„Wir sind im Zeitplan“, sagt Stefan Deffner, Sprecher der Deutschen Bahn in Düsseldorf. Der Anschluss in Westerholt wird einige Jahre später erfolgen, dort ist man noch in der Planungsphase. In Herten selbst soll es zum Fahrplanwechsel im kommenden Dezember soweit sein, dass die S-Bahn hält.
Dann werden sie auch auf Herten.de etwas ändern müssen. Unter „So finden Sie uns mit öffentlichen Verkehrsmitteln“ steht derzeit noch leicht rufschädigend: „Herten ist über die Bahnhöfe Recklinghausen Hauptbahnhof und Wanne-Eickel Hauptbahnhof zu erreichen.“ Von dort komme man mit dem Bus 249 oder dem Schnellbus 27 nach Herten.
Von den erwähnten zehn größten Städten ohne Anschluss sind vier im Ruhrgebiet. Das erklärt sich aber von selbst: Wo Städte so ineinander übergehen wie hier, braucht vielleicht tatsächlich nicht jeder Flecken einen eigenen Bahnhof. Die anderen drei Orte sind Bergkamen, Datteln und Kamp-Lintfort.
In Kamp-Lintfort verlief der Probebetrieb vielversprechend
Wobei auch Kamp-Lintfort (38 500 Einwohner) auf dem Weg ist, in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre an den Zugverkehr angeschlossen zu werden. Schließlich gibt es hier eine neue Hochschule, und eine Uni-Stadt ohne Bahnanschluss ist für die Landespolitik nicht vorstellbar.
Früher verließen nur die Kohlen von Zeche „Friedrich Heinrich“ die Stadt auf Gleisen. Ein Probebetrieb mit Menschen zur Landesgartenschau 2020 verlief vielversprechend. Und die andere Voraussetzung erfüllt das Städtchen auch: Es hat schon lange eine Bahnhofstraße.