Herten. Herten leidet schwer unter der Krise des Einzelhandels. Jetzt wehrt sich die Stadt, widmet Teile der Fußgängerzone um. Der Entschluss ist mutig.

Der Druck muss groß gewesen sein, denn selbst das Bettenhaus mit seiner 85-jährigen Gründerin und Senior-Chefin hat sich längst digitalisiert. „50 Jahre ein Teil von Herten“ steht am Schaufenster von Betten Kapner, aber drinnen können Kunden heute selbst am Computer Betten oder Polster konfigurieren. Wenn sie nicht gerade online bei Kapner sind sind oder über den QR-Code gekommen. Oder Facebook natürlich: Da stehen jetzt immer die neuesten Aktionen. So geht alteingesessenes Bettenhaus heute.

Ein bisschen ist das Geschäft ein Vorzeigebetrieb in Herten,was hier alles möglich ist. Doch je weiter man die Fußgängerzone hinuntergeht, desto angeschlagener wirkt sie. Zusehends sind Ladenlokale aufgegeben, manche Immobilie ist in schlechtem Zustand: „Ladenlokal und zwei Wohnungen zu vermieten“ steht gleich an einem Altbau eingangs der Innenstadt. Doch nun versucht die Stadt den „Neustart“, das Wort nutzt sie selbst für das Programm, „damit die Stadt . . .  eine lebendige und einladende Mitte bekommt“. Das würden nicht viele Städte so über sich schreiben. Das lesen doch Leute!

Herten hat ein Lage-Problem zwischen lauter Großstädten

Die Skulptur „Lesender“ bleibt am südlichen Ende der Fußgängerzone erhalten, aber ihr Umfeld soll ansprechender werden.
Die Skulptur „Lesender“ bleibt am südlichen Ende der Fußgängerzone erhalten, aber ihr Umfeld soll ansprechender werden. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Dabei bröckeln wegen der Krise des stationären Einzelhandels überall in NRW Zentren von den Rändern her weg, in Herten ist es so: Geschäfte konzentrieren sich im nördlichen Bereich, der südliche blutet aus. Dass aber eine Stadt offiziell beschließt, dass ein Teil der Einkaufsmeile jetzt keine Einkaufsmeile mehr ist, das nennt Martin Pricken „mutig“.

Der Stadtplaner weiß, Städte tun sich schwer mit solch einer Erklärung, es klingt nach Schrumpfung, Rückzug, Niedergang. Aber es muss etwas geschehen. „Dem Verfall nur zuzusehen, ist keine Alternative“, sagt Carina Christian, die junge Amtsleiterin der Stadtentwicklung. Herten, 62.000 Einwohner klein, hat ein Lage-Problem, hat Recklinghausen, Herne, Gelsenkirchen, Bochum vor der Tür: „Wer fährt dann nach Herten?“, fragt Pricken.

Existenzgründer können stark verbilligt Ladenlokale mieten

Das Neustart-Team sitzt selbst in einem ehemaligen Ladenlokal in der Fußgängerzone und schaut nach draußen auf den beginnenden Wandel. Geschäftsleute und Hausbesitzer beraten sie hier oder vermitteln subventionierte Ladenlokale an Leute, die eine Geschäftsidee ausprobieren wollen: Sie zahlen nur 20 Prozent der Originalmiete, der Vermieter aber bekommt 70 Prozent, ein Programm des Landes ist das, angewandt auf Herten.

Das Haus gegenüber, ein massiver Altbau, war jahrelang umzäunt und gefährlich, weil Teile der Fassade oder des Daches den Menschen auf den Kopf hätten fallen können. Heute ist er renoviert, ein Spieleverleih ist eingezogen und ein Jugendtreff. Das ist einer der Ansätze von Neustart: Bildung in die Stadt zu holen, öffentliches Leben, Wohnen.

„Wir hatten Damen-Oberbekleidung ohne Ende“

Denn die 80er-Jahre, die kommen nicht mehr. 1988 eröffnete Christoph Ules sein Sportgeschäft in einer blühenden Landschaft und erinnert sich mühelos: „Wir hatten Karstadt, Kaufring, fünf Schuhgeschäfte, drei Juweliere, drei Herren-Ausstatter, Damen-Oberbekleidung ohne Ende . . .“ Alles sei besser als der aktuelle Stand: „Hauptsache, man kriegt die Leerstände vernünftig weg.“ Gerade haben sie ihn zum Vorsitzenden des Innenstadt-Beirats gewählt.

300 Meter weiter war Woolworth in einem kleinen Kaufhaus, doch Woolworth ist nicht mehr darin. Dann wurde es vorübergehend das „Kaufhaus der Ideen“, wo die Hertener aber keineswegs etwas kaufen konnten, sondern etwas bringen sollten: Ideen, was zu tun ist. Und jetzt bauen es gerade die „Waldritter“ um. Aber was machen denn Waldritter in einer Innenstadt?

Ende 2022 soll es auch wieder einen Bahnhof geben

Carina Christian leitet das Amt für Stadtentwicklung.
Carina Christian leitet das Amt für Stadtentwicklung. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Die Waldritter sind ein gemeinnütziger Bildungsträger aus Hessen für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Bereich Umwelt und Politik. Sie schaffen in dem ehemaligen Kaufhaus eine große Bildungsstätte, und Mitarbeiter haben mehrere Wohnungen in der Innenstadt gekauft. „Herten wird ein großer Standort“, sagt Teamleiterin Carmen Muhs; und dass das Kaufhaus im Endausbau innen einem Raumschiff gleicht, passt auch irgendwie.

Beim Gang durch die teilweise verödete Ewaldstraße, die Fußgängerzone, freut sich Amtsleiterin Carina Christian, dass es jetzt bald sichtbar weitergeht: „Der Umbau beginnt 2022.“ Mehr Grün, Rasen, Bäume, Sitz- und Liegeflächen und Spielplätze wird die Stadt schaffen: „Die Anwohner sollen sich hier wohlfühlen.“

Vermutlich Ende 2022 werden die Hertener auch wieder einen Bahnhof haben. Bisher fährt die S-Bahn rufschädigenderweise nur durch: Herten hält den bodenlosen Rekord, Deutschlands größte Stadt ohne Bahnanschluss zu sein. Vor 40 Jahren war der Bahnbetrieb eingestellt worden. Und jetzt? Neustart eben.