NRW. Kaum ein Jahr nach der verheerenden Flut nimmt das Land ein neues Frühwarnsystem in (Test-)Betrieb. Die Hochwasser-Vorhersage soll Leben retten.

So viel Wasser wie im vergangenen Sommer: Statistisch floss das alle 10.000 Jahre einmal durch die Flüsse im Land. Aber dann kam der Juli 2021 – und nicht nur der Politik dämmerte: „Es ist davon auszugehen, dass der Klimawandel Ereignisse wie das Hochwasser 2021 zukünftig wahrscheinlicher macht.“ Und dass man davor besser warnen müsste, wird seither heftig diskutiert. Weil man also lernen will, und das möglichst rasch, schrieb das Umweltministerium im Januar einen Zehn-Punkte-Plan und setzt Punkt 1 seit Donnerstag um – die Testphase für eine neue Hochwasser-Vorhersage läuft.

Falls irgendwo gerade ein Tief unterwegs ist, dann heißt es Wiltrud, sie sind mit den Patenschaften also schon wieder bei W. Im Februar waren es drei andere Damen, die Deutschlands Flüsse in Wallung brachten: Xandra, Ylenia und Zeynep, unterwegs als Stürme über NRW – und da haben die Hydrologen des Landesamtes für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz (Lanuv) die neue Hochwasser-Vorhersage schon mal ausprobiert. Sie nahmen die Flutwelle vom Samstag, die Wettervorhersage für den Sonntag, die Daten der Pegelstände und ließen ihre Computer alles miteinander ausrechnen. Am Ende ließ sich erahnen, wie die Ems, in diesem Falle, noch steigen würde bis zum Beginn der neuen Woche. Und sie konnten nachsehen, ob die Rechnung stimmte. (Kam ungefähr hin.)

Schon wieder: Im Februar 2022 führt die Ruhr, hier in Essen-Steele, erneut Hochwasser.
Schon wieder: Im Februar 2022 führt die Ruhr, hier in Essen-Steele, erneut Hochwasser. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Rechenmodelle können zumindest „tiefstes menschliches Leid“ verhindern

Natürlich sind solche Modelle so einfach nicht, allein vom Deutschen Wetterdienst (DWD) kommen jeden Tag 50 Gigabyte Daten in Duisburg an, wo das Lanuv sitzt. Dazu kommen die Meldungen von 99 Gewässerpegeln, die automatisch anrufen, wenn das Wasser steigt, per Festnetz oder mobil, da sind sie flexibel. Alles läuft zusammen in der Messnetzzentrale, wird abgeglichen mit einem Datensatz von zehn Modellen aus 22.600 Teilgebieten und dem „Flood Early Warning System“, das Niederländer aus Delft schon erfunden haben – und dann gemeldet an die Bezirksregierungen, weiterverarbeitet für verschiedene Warn-Apps und ab kommendem Jahr auch für das Internet. „Aus Tropfen werden Zahlen“, steht im Lanuv-Gebäude auf einem Plakat.

Man muss sie nicht verstehen außerhalb der Wasser-Wissenschaft und der zuständigen Behörden, nur so viel: Wenn das nächste Mal eine Flut kommt, dann sollen die Menschen rechtzeitig gewarnt werden. Dann soll nichts mehr versickern auf den unterschiedlichsten Meldewegen oder in Amtsstuben. Dann wird man, wie Heinrich Bottermann, Staatssekretär im Landes-Umweltministerium sagt, „massive Sturzfluten“ und auch Sachschäden auch künftig nicht verhindern können. Wohl aber „tiefstes menschliches Leid“. Jede gewonnene Minute, sagt Bottermann, „kann helfen, Leben zu retten“. 48 Menschen kamen allein in NRW im Hochwasser 2021 um.

Künftig kann der Katastrophenschutz frühzeitig eingreifen

Erftstadt knapp vier Wochen nach der Flut: Das Dorf Blessem wurde besonders vom Hochwasser getroffen.
Erftstadt knapp vier Wochen nach der Flut: Das Dorf Blessem wurde besonders vom Hochwasser getroffen. © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Eine Vorhersage, das weiß auch Bernd Mehlig als Leiter des Hochwasserinformationsdienstes beim Lanuv, könne Wassermassen nicht stoppen und auch nicht den Regen aufhalten, der ihnen vorangeht. „Aber sie macht eine bessere Vorbereitung möglich.“ Der Katastrophenschutz kann frühzeitig evakuieren, Anwohner können sich in Sicherheit bringen. Das neue Frühwarnsystem sei ein „elementares Hilfsmittel“, glaubt die Präsidentin des Landesamtes, Sibylle Pawlowski.

Dabei ist das so neu gar nicht. Seit Jahren schon arbeiten Experten an der Vorhersage, seit der Flut des vergangenen Sommers aber ging alles schneller. Auch jetzt wird das System zunächst in einer Testphase ausprobiert; es werden noch Pegel hinzukommen und auch Flüsse: Bislang sind „nur“ 14 dabei, Rur und Ruhr, Inde und Issel, Lenne und Lippe, Ems, Erft und Emmer, Sieg, Werre, Nethe, Dinkel und Berkel. „Aber es wirkt schon“, sagt Pawlowski und wird außerdem ausgewertet, die Daten sollen ja verlässlich sein. Auch daran wird weiter gearbeitet: Welche Erkenntnisse haben welche Aussagekraft, wer warnt wann wen? So eine Vorhersage, ahnt Bernd Mehlig, sei „Fluch und Segen zugleich“. Man wisse künftig, was passieren kann, aber daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, müsse man auch erst lernen. „Der Mittelwert ist nicht immer der beste Wert.“

Er hätte das am Donnerstag gern vorgeführt am aktuellen Datum. Nur spielte da mal wieder das Wetter nicht mit. Die Pegelstände, wieder an der Ems: eine flache Linie. In den letzten Tagen, in den kommenden auch. Es ist der Effekt „wie Sie sehen, sehen Sie nichts“. Es hat nicht geregnet, es wird also kein Hochwasser kommen. Aber das ist ja auch eine Vorhersage.