Köln. Einem katholischen Geistlichen wird sexueller Missbrauch in 31 Fällen vorgeworfen. Er soll sich an seinen Nichten vergangenen haben.
Staatsanwalt Maurice Niehoff verliest die Anklageschrift schnell und leise, seine Stimme huscht über die Ungeheuerlichkeiten weg, die er da beschreiben muss und die nun für mindestens 20 Verhandlungstage die Zweite Große Strafkammer des Landgerichts Köln bis Ende Januar beschäftigten werden.
Kurz und prägnant: Pfarrer Bernhard U. soll sich zwischen 1991 und 1997 an drei Nichten vergangen haben, die zu diesem Zeitpunkt erst zwischen sieben und 13 Jahren alt waren. Noch Kinder also. Hinzu gekommen sind – kurz vor Beginn des Verfahrens – zwei weitere Fälle aus Wuppertal, wo die Tochter einer befreundeten Familie und deren Freundin das Opfer der Übergriffe geworden sein sollen.
Beim Wochenendbesuch beim Onkel und Paten
Nach Auffassung der Ermittlungsbehörden stellt sich der Fall so da: Über sechs Jahre hinweg waren die drei Mädchen – eines davon sein Patenkind – immer abwechselnd am Wochenende zu Gast beim Onkel in dessen Gummersbacher Pfarrhaus. Was dort geschehen ist, hört sich der bärtige 70-jährige mit grauen Pullover über dem Hemdkragen scheinbar ungerührt an: Er hat den Blick leicht seitlich nach unten gesenkt, vielleicht liest er mit, was der Staatsanwalt da vorträgt.
Will man sich all die unangenehmen Details um gemeinsames Baden, anfassen und angefasst werden und die Aufforderungen zu sexuellen Handlungen sowie das gemeinsam nackt auf dem Bett liegen ersparen und nur ein ungefähres Bild haben, dann erscheint der katholische Priester als jemand, der immer wieder ausgetestet hat, wie weit er gehen kann, beim Begrapschen des Intimbereich der Kinder.
Über Widerstände scheint er sich da nicht hinweg gesetzt zu haben. Andererseits: welchen Widerstand soll ein einzelnes Kind im Grundschulalter schon einem fülligen, großgewachsenen Mittvierziger, zudem Vertrauensperson, Onkel und Priester, denn schon entgegensetzen? Und in dem einem Fall, wo sich eine der Nichten beschwerte, er tue ihr weh und in Tränen ausbricht, lässt von ihr ab, um dann auszunutzen, dass sie Trost bei ihm sucht, so schildert es der Staatsanwalt. In einem anderen Fall soll der Priester einer seiner Nichten einen Computer versprochen haben – gegen eine sexuelle Handlung. Mindestens diese beiden Vorgänge dürfte die Staatsanwaltschaft als schweren Missbrauch einstufen.
Seinem Dienstherren, dem Erzbistum Köln, waren die Vorgänge im Jahr 2010 bekannt geworden. Damals hatte eine der Nichten bei der Staatsanwaltschaft Anzeige erstattet. Diese zog sie allerdings einige Monate später wieder zurück, die Ermittlungen wurden später zunächst eingestellt. Erst durch eine Verlängerung der Verjährungsfristen und dadurch, dass das Erzbistum den Fall 2018 erneut den Behörden meldete und U. die Ausübung des priesterlichen Dienstes untersagte, wurde weiter ermittelt.
Eines der Opfer erscheint persönlich im Saal
An diesem Dienstag sitzt eines der Opfer der beiden Vorfälle aus Wuppertal persönlich als Nebenklägerin im dunkel vertäfelten Gerichtssaal des Kölner Justizznetrums. Die übrigen Opfer lassen sich zunächst nur anwaltlich vertreten. Eine eher neue Entwicklung, hatte doch 2010 die Nichte erklärt, auch auf familiären Druck die Anzeige zurückgenommen zu haben. Es galt offenbar den Ruf der angesehen Kölner Familie zu verteidigen: der ältere Bruder des Angeklagten z.B. war bis 2009 Bürgermeister einer mittelgroßen Stadt im Rheinland.
Wie viel die Familie wusste, vor allem die Mutter der drei minderjährigen Mädchen, auch das wird in den nun folgenden 20 Verhandlungstagen umfänglich zur Sprache kommen – allerdings hinter verschlossenen Türen. Auf Antrag des Verteidigers von Bernhard U. wurde die Öffentlichkeit nach Verlesung der Anklageschrift ausgeschlossen. Zuvor nutzte der Rechtsanwalt sein Eröffnungsstatement dazu, zu betonen, die jetzt zu verhandelnden Vorfälle beträfen allein den privaten Bereich des Angeklagten und hätten nichts mit der Institution der katholischen Kirche zu tun.
Er war zudem offenkundig bemüht, seinen Mandanten vor der Öffentlichkeit zu beschützen und beantragten gleich zu Beginn den Ausschluss der Öffentlichkeit, sogar für die Verlesung der Anklageschrift. Die Zweite Strafkammer, die zugleich als Jugendstrafkammer tagt, folgte dem nicht. Es sei bereits im Vorfeld öffentlich berichtet worden und das öffentliche Interesse überwiege: das Interesse an der Aufarbeitung des Gesamtkomplexes „Missbrauch in der katholischen Kirche“ überwiege.
Denn die Vorgänge spielten sich schließlich im Pfarrhaus ab. Der Fall von Pfarrer U., der im Internet in vielen Beiträgen als hochaktiver und engagierter Seelsorger vor allem für die Kranken, Sterbenden und Hinterbliebenen gelobt wird, ist einer von jenen, die in dem im Frühjahr vorgelegten Rechtsgutachten zu möglichen Fehlern und Versäumnissen der Verantwortlichen des Erzbistums Köln großen Raum einnimmt.
Einstiger Personalchef und heutige Erzbischof von Hamburg soll noch aussagen
Der Vorgang um Hans Bernhard U. ist einer jener Fälle, bei dem dem Erzbistum Köln schwere Pflichtverletzungen vorgeworfen werden. In den Zeugenstand soll dabei unter anderem der einstige Personalchef des Bistums und heutige Erzbischof von Hamburg, Stefan Heße, aussagen. Er hatte im Zuge des Missbrauchskandals bereits dem Papst seinen Rücktritt angeboten, dieser lehnte jedoch ab.
Der Fall taucht als „Aktenvorgang 22“ auch In dem Gutachten der Kanzlei Gercke/Wollschläger auf, die von Kardinal Woelki beauftragt wurden, die Fälle von Missbrauch im Erzbistum Köln vor allem mit Blick auf eventuelle Versäumnisse in der Bistumsleitung zu untersuchen. „Da die Mädchen auch über Nacht bei ihrem Onkel blieben, war sonst niemand bei den Geschehnissen anwesend“, heißt es dort. Dennoch hätten zahlreiche Menschen im Umfeld Bescheid gewusst, darunter die Eltern und ihre Brüder.
2018 meldete das Bistum den Fall erneut den Behörden
Vor allem die Großmutter jedoch habe darauf gedrängt, die Vorkommnisse aus Sorge um den Ruf der Familie nicht anzuzeigen – auch die Betroffene zog die Anzeige später wegen „innerfamiliärer Konsequenzen“ zurück.
Im Erzbistum war der Sachverhalt wohl auch bekannt, die Aussagen der Betroffenen seien aber bewusst nicht protokolliert worden, da ein solches Protokoll „beschlagnahmefähig“ gewesen wäre. „Prälat Dr. Heße ist mit dem Prozedere einverstanden.“ Aus der Einstellung des Verfahrens indes schlussfolgerte die Justiziarin des Bistums, dass der Priester wieder in Amt und Würden einzusetzen sei– seinerzeit als Krankenhauspfarrer in Wuppertal. Zudem wolle das Erzbistum prüfen, ob die dem Pfarrer entstandenen Kosten für seinen Anwalt in Höhe von 6000 Euro ersetzt werden könnten. Man einigten sich auf halbe/halbe.
Weil die Betroffene ihre Aussagen zurückgezogen hatte, sahen die Verantwortlichen im Erzbistum davon ab, den Fall nach Rom zu melden. Das wird ihnen in den Gutachten vom März 2021 als Fehlverhalten angekreidet: Nach kirchlichem Recht wäre „eine Voruntersuchung zwingend einzuleiten gewesen“, zudem sei es falsch gewesen, dass kein Protokoll der Aussagen der Betroffenen gefertigt wurde. 2018 indes meldete der derzeit beurlaubte Erzbischof Rainer Kardinal Woelki den Fall erneut der Staatsanwaltschaft und untersagte U. die Ausübung des Priesteramtes. (mit dpa)