Essen. Eine “unbehauste Kindheit“ - so beschreibt Altkanzler Willy Brandt in seinen Erinnerungen seine ersten Lebensjahre in Lübeck. Überall in der Stadt lassen sich Spuren des berühmten Politikers, damals noch unter seinem Geburtsnamen Herbert Frahm bekannt, entdecken und in der Geschichte schwelgen.
Noch ein paar Wochen, dann ist sie endlich dran“, sagt Daniela Martin. Sie zeigt auf ein Haus und meint die Gedenkplakette für Willy Brandt, der hier geboren aber noch nicht verewigt wurde, in der Meierstraße 16 in Lübeck.
Damals, 1913: keine Kiez-Gegend, eher ein Arbeiterstadtteil – und heute Startpunkt des Spaziergangs auf den Spuren des Altkanzlers und Friedensnobelpreisträgers. Von einer „unbehausten Kindheit“ schreibt Willy Brandt in seinen Erinnerungen über die Zeit, als er noch seinen Geburtsnamen Herbert Frahm trug. Und meint damit, dass seine Mutter Martha ihren Sohn hier unehelich bekommt, sich kaum um ihn kümmern kann. „Sie arbeitet als Verkäuferin“, erzählt Daniela Martin: „50 Stundenwoche, Hausarbeit, Kleidung nähen für sich und den Sohn – kurz: irgendwie durchkommen. Viel Arbeit, wenig Geld. Als sitzen gelassene Frau.“
Beim Opa aufgewachsen
Doch der kleine Herbert hat Glück. Der Stiefvater seiner Mutter kümmert sich um ihn. Als Lastwagenfahrer in den Drägerwerken bekommt Ludwig Frahm eine kleine Werkswohnung und nimmt seinen Enkel zu sich – ohne die Mutter.
Die Wohnung ist zum Teil im Willy Brandt-Museum in der Innenstadt nachgebaut. Daniela Martin führt zum Originalstandort, heute ein Parkplatz, und erzählt vom besonderen Opa-Enkel-Verhältnis: Ludwig Frahm ist aktiver Sozialdemokrat, singt Arbeiterlieder mit Herbert und legt den Grundstein der späteren politischen Gesinnung.
„Wir wollen keine Almosen“
Allerdings ist zunächst der Hunger des Achtjährigen stärker als seine Überzeugung: Während eines Streiks der Dräger-Arbeiter Anfang der 20er Jahre sind diese ausgesperrt, bekommen keinen Lohn. Das Essen wird knapp. Da läuft Herbert auf der Straße einem Direktor der Dräger-Werke in die Arme. Der kauft dem Jungen zwei Brote, mit denen er stolz nach Hause kommt. Doch als Opa vom Spender erfährt, zwingt er Herbert, die Brote zurück zum Bäcker zu bringen: „Wir wollen keine Almosen, sondern unser Recht!“
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Während Mutter Martha bei ihrem Sohn nur noch ein-, zweimal pro Woche vorbeischaut, wird Opa Ludwig so sehr zum Ersatz-Papa, dass er in Willy Brandts Abiturzeugnis sogar als Vater genannt wird. Aus gutem Grund, denn dank seines Großvaters ist Herbert Frahm einer der wenigen Arbeiterjungen, die es auf’s „Johannaeum“ schaffen, eines der hochangesehenen Lübecker Gymnasien. Hier gibt’s im Eingang schon lange eine Erinnerungsplakette für den berühmten Schüler, der mit miesen Noten abgeht, wie die Zeugniskopie zeigt. „Er hatte damals nur noch Politik im Kopf“, sagt sie, „wird von Mitschülern auch ‚der Politiker‘ genannt“. Weil er schon als 16-Jähriger feurige Reden hält und zum Jahrestag der Verabschiedung der Weimarer Verfassung in der Uniform der Sozialistischen Pioniere zur Schule kommt, aber nach Hause geschickt wird. „Halten Sie Ihren Jungen von der Politik fern, sie wird ihn ruinieren“, rät der Klassenlehrer.
Bruch mit der zu laschen SPD
Vergeblich. Denn Herbert hat längst einen weiteren Über-Vater gefunden – den Lübecker Reichstagsabgeordneten Dr. Julius Leber. „Er ist Mentor des jungen Polit-Talents, lässt ihn für die Partei- und Tageszeitung ‚Lübecker Volksboten‘ schreiben“, erzählt Daniela Martin in der längst nach Leber benannten Johannisstraße, wo damals Gewerkschafts- und Verlagshaus nebeneinander standen, heute aber nur noch der Rotklinker-Gewerkschaftsbau übrig ist.
Doch Anfang der 30er Jahre bricht Herbert Frahm mit Julius Leber, tritt sogar aus der SPD aus, weil er deren Widerstand gegen die Nationalsozialisten für zu lasch hält. Der junge Willy Brandt wechselt in die radikalere „Sozialistische Arbeiterpartei“ (SAP), die ein linkes Anti-Nazi-Parteienbündnis mit den Kommunisten befürwortet. Aus dieser Zeit stammt ein Foto Brandts: Er posiert als ernst dreinschauender Nachwuchs-Revoluzzer mit der SAP-Zeitung „Kampfsignal“.
Der Spaziergang durch die Jugend des Ex-Kanzlers endet in dem zu seinen Ehren eingerichteten Willy Brandt-Haus in der Königsstraße. Brandts seinerzeit moderne Wahlkämpfe („Willy wählen!“), die Geschichte rund um den Warschauer Kniefall, ein Brandt-Imitator im O-Ton oder wegweisende Reden – das Museum ist ein guter Anschluss an die Tour durch seine Jugend.
„Eintracht im Innern, Friede nach außen“
Auch, weil sich hier der Travemünder Fischer Paul Stoß in einem vergilbten Zeitungsartikel erinnert, wie er am 1. April 1933 einen 19-Jährigen nach Dänemark schipperte. Der Flüchtling heißt ab jetzt nicht mehr Herbert Frahm, sondern Willy Brandt, baut in Norwegen ein Büro der SAP auf und arbeitet als Journalist.
Nach Lübeck kommt Brandt als Berliner Bürgermeister und Kanzler später immer wieder. Seine Wahlkampftouren enden hier zumeist, und als Kanzler setzt er seiner Heimatstadt quasi ein Denkmal: „Eintracht im Innern, Friede nach außen“ solle Leitbild seines Regierungshandelns sein, sagt Brandt 1969. An diesem Motto fuhr er als Junge oft vorbei – es prangt in goldenen Lettern am Lübecker Holstentor: „Concordia domi foris pax“.