Singapur. Einmal im Jahr wird aus der grauen und reglementierten Stadt eine gigantische Partymeile. Das Rennen um den großen Preis von Singapur findet statt und mit ihm eine extravagante Feier. Die Uhrzeit verliert ihre Bedeutung während der Nonstop-Nacht im verdunkelten Kongresszentrum an der Marina Bay.

Nachmittag? Hier gibt es keinen Nachmittag. Hier gibt es nur die Finsternis, durchzuckt von grellen Blitzen, von Laserstrahlen, von Stroboskopen im Stakkato, wie ein Gewitter aus brennendem Magnesium. Ein apokalyptisches Wetterleuchten taucht die Szenerie ins Licht, für einen Augenblick. Nur langsam fügt sich ein Bild aus dem Hell-Dunkel-Puzzle: eine Masse Mensch, wogend, verschwitzt und atemlos, im feuchten Kunstnebel und dirigiert von Techno-Beats. Bässe wie eine Faust im Magen. Blutjunges Volk, viel nackte Haut, die Fetzen darüber teuer.

Ein Ballsaal, den die losgelassene Jeunesse dorée im Sturm geentert hat. Ein DJ auf der Bühne, eine Schar Kellnerinnen in Hotpants unter ihm, schleppt Champagner in Flaschen – und gottlob weit und breit kein Säbel. Das Mobiliar: verheert. Die Hussen über den Stuhllehnen längst derangiert wie mancher Lidstrich, Essensreste auf dem Boden, unter einem Tisch ein Pärchen, kaum bekleidet, lässt keine Zweifel offen. Und es ist 15 Uhr.

Riesenparty in der spaßfreien Zone

Draußen steht die heiße Luft und das Licht ist gleißend, doch kein Sonnenstrahl dringt bis in den Saal des Kongresszentrums an der Marina Bay hinein, die Türen zu und die Fenster blickdicht abgeklebt mit schwarzem Tape: alles, bloß keine Helligkeit. Einmal im Jahr pfeift Singapur auf die Sonne und den Tag. Das Rennen ist in der Nacht.

Als vor fünf Jahren der Formel 1-Zirkus zum ersten Mal in den Stadtstaat kam, glaubten die meisten Fahrer an einen einmaligen Auftritt. Ein Nachtrennen: was für eine bizarre Idee. Um die 5073 Meter lange Strecke hell wie am Tag zu machen, brennen 1485 Scheinwerfer, fast drei Millionen Watt. Ein Flutlichtrennen in einer Klasse, in der traditionell am Nachmittag gefahren wird. Und doch: Der Große Preis von Singapur hat mittlerweile seinen festen Platz in der Formel 1. Und die „Löwenstadt“ endlich eine neue Farbe. Betongrau, kühl und aufgeräumt, beinahe aseptisch, so galt Singapur lange Jahre, Südostasiens langweiligste Stadt, ein öder Finanzplatz, spaßfreie Zone, in der selbst Kaugummi verboten ist. Jetzt aber ist das Rennen da. Und Singapur hat, zumindest für ein Wochenende, alles, was hier so lange fehlte: Charakter, Dreck und Sex. Tageslicht kann da nur stören.

Knöchelhoch im Biomüll

Und so nehmen wir, bevor die Party endgültig aus dem Ruder läuft, den schummerigen Fahrstuhl in die Tiefgarage und dort ein Taxi mit getönten Scheiben für die paar Meter bis zum „Raffles“: Auch ein guter Ort, den Nachmittag im Dämmerlicht hinter sich zu bringen, solange nur die Jalousien unten sind. Und: Auch wer den Dreck sucht, ist in der berühmten „Long Bar“ des Hotels gerade richtig. „Littering encouraged“, verheißt ein Schild, gemeint sind Erdnussschalen, die hier jeder ungestraft auf den Boden werfen darf: knöchelhoch steht Biomüll am Tresen. Ein Sundowner verkürzt die Zeit bis zum Sonnenuntergang da draußen, in der „Long Bar“ hat man kaum eine Wahl: hier wurde der Singapore Sling erfunden. Und wer einen kennt, der den Barmann kennt, bekommt ihn frisch geschüttelt und nicht als Fertigmischung.

Nach zwei Drinks gibt die Sonne endlich auf, und wer klug ist, geht noch einmal Kraft tanken für eine lange Nacht. Der Pool im Marina Bay Sands ist eigentlich den Hotelgästen vorbehalten, doch gegen ein großzügiges Trinkgeld unter der Hand gibt es ein Handtuch. Wer dann hier eintaucht versteht sofort, warum der Zugang restriktiv ist.

Der Pool des Marina Bay Sands ist kein Hotel-Schwimmbecken, sondern ein Architektur-Spektakulum: In 200 Meter Höhe liegt er quer über drei Hotel-Türmen, 150 Meter lang, mit einem Blick senkrecht in die Tiefe. Gänsehaut! Ganz da unten liegen die Bay, Clarc Quay, die Uferpromenade, und dahinter der Glas- und Stahlbeton-Dschungel des Finanzdistrikts. Die Lichter gehen an. Der Himmel dreht von dunkelgrau auf anthrazit.

Sieger steht noch nicht fest - Champagner aber schon bereit 

In den Fahrerlagern nehmen sie jetzt Schlafbrillen ab und öffnen zugeklebte Fenster. Für die meisten Piloten bricht jetzt der Tag erst an. Bloß nicht den Biorhythmus einstellen auf Südostasien, nicht wegen einer Nacht. In den Boxen werden Motoren angeworfen, kein satter Klang, sondern hochtönendes hysterisches Gekreisch, das in die Knochen fährt. Dort, wo sich sonst Singapurs dichter Berufsverkehr auf sechs Spuren drängelt, fährt jetzt nur ein einsames Safety-Car hinter Betonbarrieren, Zäunen und Tribünen.

Die Innenstadt ist ein Hindernislauf in diesen Tagen. Da hilft es, wenn das Ziel eine Landmarke ist, ein singulärer Obelisk etwa im Wald der Wolkenkratzer. Das „1-Altitude“ heißt so, weil es die Nummer eins ist in Sachen Höhe: 282 Meter und ein 360-Grad Rundum-Blick, die höchste Freiluft-Bar der Löwenstadt. Hier oben ist Bewegung in der schwülwarmen Luft, das Bier fast Eis, der Dress-Code lässig und die Türsteher so früh am Abend noch entspannt. Die spontanen Rennstall-Partys gibt es erst nach der Siegerehrung, und wie immer weiß keiner so genau, wer kommt. Vielleicht Alonso oder Hamilton, vielleicht auch Vettel mit Gefolge. Für alle Fälle steht eine Palette Champagner im Kühlraum, und im „Stellar“ direkt unter dem „1-Altitude“ haben sie Hummer mit getrüffeltem Risotto auf die Karte gesetzt.

Es nähert sich ein verschwommenes Etwas

Und wo das Rennen sehen? An keinem anderen Austragungsort kann man so nahe an die Strecke. Von den vorderen Plätzen lässt sich die Hand ausstrecken nach den Wagen, was man nicht tun sollte – genauso wenig wie auf Ohrenstöpsel zu verzichten. Wer für über 400 Euro in der ersten Reihe sitzt, erlebt die Königsklasse als Angriff auf das Trommelfell und als Herausforderung fürs Auge. Folgen lässt sich den lärmenden Geschossen kaum: Es nähert sich ein verschwommenes Etwas, schießt vorbei und verschwindet. Rot? Wohl ein Ferrari.

Lieber also auf den Hotel-Balkon. Auf den im „Swissotel“ am besten – ein geheimer Logenplatz für den Großen Preis von Singapur. Die Zimmer vom 60. Stock aufwärts sind begehrt an diesem Wochenende, denn direkt unter ihnen breitet sich der Marina Bay Street Circuit aus. Von hier oben sieht das Rennen wie auf einer Carrerabahn aus.

In die Nationalhymne des Erstplatzierten mischt sich das Knallen von Korken, das Feuerwerksgeböller und die ersten Bässe des Abschlusskonzerts direkt an der Strecke. Unten schrauben Arbeiter Sperrgitter und Zäune ab, und Tausende fluten den Parcours, der noch nach heißem Kautschuk riecht, lassen sich treiben, Richtung Clarc Quay, wo die Bars schon warten, oder nach Chinatown in einen illegalen Club, trinken Bier aus Plastik-Bechern, die im Rinnstein landen, in dieser dreckigen, schwülfeuchten, wunderbaren Nacht. Und der Morgen kann noch lange warten.