Tartu. Estland-Reisen gehen oft nicht über Tallinn hinaus. Dabei hat Tartu als zweitgrößte Stadt des baltischen Staats mindestens genauso viel zu bieten. Sie ist zu einem Fünftel von Studenten bevölkert und kann auf eine bewegte Geschichte mit deutschen Einflüssen zurückblicken.
Studenten müssen küssen. Und deshalb knutschen die beiden tagein tagaus vor dem Rathaus. Eng umschlungen, den Regenschirm über dem Haupt, geben sie sich ganz ihrer Liebe hin. Seit 1998 steht die Bronzeskulptur nun dort, modelliert nach einem Foto zweier echter Studenten, die bei einem Wettbewerb ihr Bild eingeschickt hatten. Der Brunnen der küssenden Studenten ist das Wahrzeichen von Tartu. Das heitere Element auf einem Platz, der gesäumt ist von klassizistischen Bauten, kleinen Läden und Straßencafés.
Tartu ist Estlands zweitgrößte Stadt. Eine Studentenstadt. Von den 100.000 Einwohnern sind knapp 20.000 an der Uni eingeschrieben. Es ist die älteste des Landes, 1632 gegründet, berühmt für Naturwissenschaften und ihre antiken Kunstskulpturen.
Tallinn hat Geld, Macht und die Touristen
1869 erwachte hier das estnische Nationalbewusstsein bei einem der berühmten Sängerfeste. Tausende sangen für die Freiheit. Blau, schwarz, weiß, die Farben der heutigen Nationalflagge, sind die Farben einer Studentenverbindung aus Tartu. Kein Wunder, dass man immer mal neidisch ist auf Tallinn. Tartu hat so viel, aber die Hauptstadt das Geld, die Macht und die Touristen. Seit Januar 2011 darf Tallinn sich obendrein Europäische Kulturhauptstadt nennen. In einem internen Auswahlverfahren hatte ihr das Kulturministerium den Vorzug gegeben. Vor Tartu, der Nummer zwei, die ständig um Aufmerksamkeit kämpfen muss.
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Maarja Ojamaa ist eine dieser Kämpferinnen. Die 23-Jährige wird nach ihrem Studium für die Stadt Tartu Marketing machen. Auf die Suche gehen nach den Dingen, die Tartu weiter voranbringen. „Sie müssen einmal im Frühjahr kommen“, sagt sie, „im Frühjahr, wenn die Studententage im Freien stattfinden“. Bei den Studententagen ist ganz Tartu eine Partymeile, es wird auf den Straßen gefeiert und auf den Bühnen Musik gemacht, absurdes Theater inszeniert und allerhand Schabernack getrieben.
Dazu gehört der Drahtseilakt über die Bogenbrücke. Sie steht an der Stelle einer im Zweiten Weltkrieg zerstörten Prachtbrücke Katharinas II. Der Nachfolgebau ist ein Betonwerk aus der Sowjetzeit, mit einer knapp einen Meter breiten Bogenkonstruktion. An schönen Abenden balancieren Dutzende von Studenten über sie hinüber und legen eine Mutprobe ab.
Deutsch war Unterrichtssprache an Estlands ältester Uni
Es ist für Ausländer nicht immer einfach, den Darbietungen der Studenten zu folgen. Obwohl alle fast ausnahmslos sehr gut Englisch sprechen, finden die Programme in der Landesprache statt: Ausdruck eines neuen Nationalbewussteins, das die eigene Kultur und Sprache hochhält. „Im Ausland leben?“, fragt Maarja Ojamaa. „Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Wir sind nur 1,3 Millionen Menschen in Estland und ich will hier eine Familie gründen.“
Angela Olejko ist eine der wenigen Deutschen, die Estnisch lernen. „Nicht einfach,“ sagt die 24-Jährige, die mit einem Esten zusammenlebt und noch immer mit der komplizierten Grammatik zu kämpfen hat. Ein Jahr lang war sie in Tallinn, bevor sie nach Tartu kam. „Hier ist immer etwas los und alles ist viel, viel billiger.“
Man muss kein Estnisch können, wenn man das Hauptgebäude der Universität besichtigen will. Bis zur Wende des 20. Jahrhunderts war hier Deutsch die Unterrichtssprache, die Wandgravuren im Studentengefängnis, dem Karzer, sind auf Deutsch verfasst: „Zwei Wochen saß an diesem Tisch der Studiosus Edgar Frisch.“
Geduldet, entmachtet – und dann vertrieben
Edgar Frisch war wohl einer der vielen Baltendeutschen, die in Tartu studierten. Sie waren bis zum Ersten Weltkrieg die von den Russen geduldete Oberschicht des Landes, wurden erst mit der Unabhängigkeit 1919 entmachtet und schließlich 1939 von den Sowjets und Nazis vertrieben. Viele Lehnwörter wie Apteek, Supp oder Trepp zeugen auch heute noch von ihrem Einfluss damals.
Das „Trepp“ ist auch so eine Studentenkneipe in der historischen Altstadt von Tartu. Gleich neben dem „Crepp“, wo es fantastische Heidelbeerpfannkuchen gibt. Die Altstadt von Tartu lässt sich bequem zu Fuß erleben, vom Rathausplatz sind es nur ein paar Minuten auf den Domberg oder zum alten Pulverkeller, zum universitären Hauptgebäude oder zur Bogenbrücke.
Als Urlaubsgast sollte man sich allerdings davor hüten, über sie allzu leichtfertig hinwegzubalancieren. Den „Geist von Tartu“ muss man sich langsam erarbeiten. Dafür wird man von ihr belohnt: Mit ein paar Dingen, die es so in der Hauptstadt nicht gibt. Die küssenden Studenten zum Beispiel und das Gefühl, von Estland noch etwas anderes gesehen zu haben als immer nur – Tallinn.