Hagnau. Es ist schon etwas Besonderes, wenn ein so großer See wie der Bodensee komplett zufriert. 1963 war dies das letzte Mal der Fall. Ein Naturschauspiel, dass die Bewohner des Ufers wohl nicht mehr vergessen werden. Denn so einfach konnten sie nie wieder zu ihren Nachbarn in der Schweiz spazieren.
Ein nebliger Tag, dieser 6. Februar 1963. Minusgrade halten das Ufer des Bodensees seit Anfang November in kalten Klauen. In Hagnau stapft Hermann Urnauer mit seinem Sohn an der Hand durch die eisige Windstille zum Kindergarten. Seit gestern fährt kein Schiff mehr über den See. Auf Minus 20 Grad soll das Thermometer in der Nacht gefallen sein. Nur die Fähre von Konstanz nach Meersburg, so hört man, komme noch mühsam voran.
Auf dem Rückweg sieht Urnauer plötzlich Bewegung am Ufer. Ein Trupp Männer hantiert mit Seilen und Leitern. Sofort läuft er los, holt seine Schlittschuhe, sagt der Frau natürlich nichts und macht sich auf, die wagemutigen Abenteurer einzuholen. Doch die sind längst vom kalten Nebel über dem See im Alpenvorland verschlungen.
Eine "Seegfrörne" ist eine Gnade
Der Bodensee zwischen Hagnau und dem gegenüberliegenden schweizerischen Altnau ist etwa 180 Meter tief. Vor allem der bis zu 14 Kilometer breite Obersee gilt als eisfrei. 473 Quadratkilometer Wasseroberfläche werden vom Rhein durchströmt – und von der Sonne ordentlich verwöhnt. Kommt das große Eis dann doch, ist das ein wahres Jahrhundertereignis.
Im Februar 1963 war es soweit. Davor 1880 und 1830 – nun seit 50 Jahren nicht mehr. Eine solche „Seegfrörne“ wahrhaftig zu erleben, ist eine Gnade. Wer sie erfahren darf, erzählt sein Leben lang davon – so wie Hermann Urnauer eben: Auf dem Alteis in Ufernähe liegt Schnee. Urnauer folgt den Spuren. Mit seinen Schlittschuhen hat er die Gruppe vor ihm schnell eingeholt.
Eisige Völkerverbindung
Einer fährt vorweg auf Skiern, auf einem Schlitten wird die Ausrüstung mitgeführt. Kompass, Fernglas, auch eine Leiter gehören dazu. Es knackt und hallt unheimlich, wenn sich die Eisplatten übereinander schieben. Endlich – nach über zwei Stunden verloren in eisiger Kälte – zeigt das Fernglas dunkle Konturen im Nebel. Es sind die Pappeln am Ufer von Güttingen. Die Schweizer Seite des Bodensees ist fast erreicht.
Die „Seegfrörne“ von 1963 wurde damals zu einem großen, Völker verbindenden Fest: Das Eis schlägt eine Brücke zwischen Nachbarn, die nicht nur der See, sondern auch der Lauf der Geschichte getrennt hat.
Uferwanderung ohne Probleme
Den ersten wagemutigen Abenteurern aus Hagnau folgen tausende Ausflügler aus der Schweiz, aus Österreich und aus Deutschland. Auf dem Eis, wo der Grenzschutz zu Beginn der Massenwanderungen noch jede Tasche und jeden Rucksack auf Schmuggelware durchsucht, ist bald kein Halten mehr. Anmelden? Rechtswidriger Grenzübertritt? Die Masse überrollt alle Vorschriften.
Die Jugend der drei Nationen trifft sich Abend für Abend in den Gasthöfen am Bodenseeufer. Rudolf Dimmeler, heute Vorsitzender des Heimat- und Geschichtsvereins Hagnau, erinnert sich: „Der See hatte plötzlich nichts Trennendes mehr. Wir konnten problemlos zwischen den Ufern hin und her gehen.“
"Über eisige Grenzen - Seegfrörne vor 50 Jahren"
Der tiefe Wunsch nach Frieden und Verbundenheit findet auch religiösen Ausdruck in einer Eisprozession: Ihre Geschichte lässt sich bis in das Jahr 1573 zurückverfolgen.
In ihrem Mittelpunkt steht die Büste des Heiligen Johannes Evangelista, ein Weinheiliger. Sie wird bei einer „Seegfrörne“ zwischen den katholischen Kirchengemeinden Münsterlingen und Hagnau ausgetauscht. Seit 1963 steht der Heilige nun in der Pfarrkirche des ehemaligen Benediktinerklosters in Münsterlingen – und wartet. Am 9. Februar, 50 Jahre nach der bislang letzten Eisprozession, wird mit einer Prozession und einem ökumenischen Gottesdienst in Münsterlingen an den Heiligen und das große Eis gedacht. Wenige Tage später eröffnet die Sonderausstellung „Über eisige Grenzen – Seegfrörne vor 50 Jahren“ mit Bildern, Geschichten, Ton- und Filmaufnahmen zur „Seegfrörne“ 1963 im Hagnauer Museum.
Gulaschsuppe und Kartoffelbrei
Vom Schweizer Ufer schlägt der Hagnauer Expedition 1963 scharfes Bellen entgegen. Der Schäferhund vom Gasthaus Schiff hat die wagemutigen Männer auf dem Eis vor Güttingen gestellt. Der Wirt eilt zur Rettung herbei – und staunt nicht schlecht über die durchgefrorenen Gestalten in ihrer seltsamen Ausrüstung. Dann erkennt er, was Not tut: Eine warme Gulaschsuppe mit Kartoffelbrei muss her. Nun werden Zeitungen und Offizielle informiert – ein Anruf geht auch nach Hagnau, wo Urnauers Frau erfährt, dass sie mit dem Mittagessen an diesem Tag nicht zu warten braucht.