Essen. Lange schien es unmöglich das unberechenbare Eis der Nordwestpassage zu bezwingen. Doch Klimaveränderungen und die damit einhergehende Eisschmelze ermöglichen es mittlerweile sogar Passagierschiffen die engen Wasserstraßen zu durchqueren. Jedoch birgt das Eis nach wie vor zahlreiche Gefahren.

Es ist Spätsommer in der kanadischen Arktis. An Deck hat es milde sechs Grad, die Sonne scheint, es weht kaum Wind. Seevögel kreisen über dem Schiff, Robben haben es sich auf Eisschollen bequem gemacht. Das Expeditionsschiff steckt in der Victoria-Straße, einer Enge im Polarmeer irgendwo am 69. Breitengrad. Der Nordpol ist 2000 Kilometer, die nächste Siedlung eine Tagesreise entfernt. Vor dem Bug türmt sich das Packeis. „Wir müssen umkehren“, ruft Expeditionsleiter Jason Annahatak den Passagieren zu. „Sicher ist sicher.“

Eine Schiffsreise durch die Arktis steckt voller Ungewissheiten. Speziell in der Nordwestpassage, jenem knapp 6000 Kilometer langen Seeweg, der Atlantik und Pazifik auf einer nördlichen Route verbindet. Bis vor einigen Jahren war die Passage fast das ganze Jahr über zugefroren. Jetzt hat der Klimawandel sie geöffnet, denn das Meereis in der Arktis ist in den letzten Jahrzehnten fast um ein Viertel geschrumpft.

Eisbären hoffen im Packeis auf Beute

Mittlerweile durchqueren jedes Jahr zwei bis sechs größere Passagierschiffe die Nordwestpassage. Heute aber hat es die Natur allen noch einmal gezeigt. Offenbar gibt es noch immer genügend Eis, um ein 5000 PS starkes Schiff zu stoppen. Also dreht der Kapitän bei und wählt einen Umweg. Statt zwölf Knoten fährt er nur Schrittgeschwindigkeit. Immer wieder rammt er Eisschollen. Dann kracht es an Bord wie bei einem Autounfall. In den Kabinen zittern die Wände. Zum Glück ist der Rumpf durch dicke Stahlplatten verstärkt! Das Schiff stammt zwar noch aus alten Sowjetzeiten, ist aber sehr robust.

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Die Nordwestpassage ist eigentlich kein Seeweg sondern ein Labyrinth aus Inseln, Kanälen und Meerengen, voller Untiefen und Packeis. Immer wieder haben Kreuzfahrtschiffe hier zu kämpfen. Auch die „Clipper Adventurer“, die vom kanadischen Anbieter Adventure Canada gechartert wird. 2010 lief sie unterwegs auf Grund, die 118 Passagiere wurden von einem kanadischen Eisbrecher aufgelesen. Heute aber geht alles gut – wie in den allermeisten Fällen.

1846 ist es aber auch nicht gut gegangen. Der Brite Sir John Franklin wollte die Passage als erster Europäer bezwingen. Irgendwo in der Victoria-Straße war auch er stecken geblieben und musste seine beiden Segelschiffe „Terror“ und „Erebus“ aufgeben. Franklin und alle 126 Seeleute starben. Die erste Durchfahrt gelang dem Norweger Roald Amudsen zwischen 1903 und 1906.

Natur hautnah miterleben

Mittlerweile ist das Expeditionsschiff in der Bellut-Straße angelangt. Reiseleiter Jason lässt Anker werfen. Jason ist ein Inuit, so nennen sich die Eskimos selbst. Er ist in einem kleinen Dorf in der Arktis aufgewachsen und spürt die Natur in seinem Bauch. „Legen Sie die Schwimmwesten an. Heute gibt’s was zu sehen“, ruft er. Dann lädt er sicherheitshalber seine „Winchester 338“. Über eine Metalltreppe geht es vom Schiff aus nach unten zu den Schlauchbooten. Vorsichtig steuert Jason sein Zodiac-Boot um die Eisberge und Eisschollen herum. Sie haben bizarre Formen und scharfe Kanten und leuchten hell in der Sonne. Auf einmal ruft er „Nanuq!“ und zeigt an Land.

Eisbären! Die Eisbären-Mutter und ihr Junges beobachten die Wesen in den Booten mit Neugier. Sie sind nur 200 Meter entfernt. Aber die Eisbären interessieren sich heute nicht für Menschen, sondern für Robben. Im Packeis sehen sie ihre Chance auf Beute. Es ist eine der wenigen, die sie diesen Spätsommer noch haben. Denn seit das Eis schneller schmilzt, wird die Jagdsaison der Bären immer kürzer. Viele leiden unter Unterernährung. 20.000 Bären soll es weltweit noch geben, Tendenz fallend. Als der Zodiac den Fjord verlässt, trotten auch die Bären davon.

Das unberechenbare Eis bezwingen

Neun Tage dauert die Schiffsfahrt durch die Nordwestpassage. 2800 Kilometer von Resolute nach Cambridge Bay und wieder zurück. Vorbei an einer Wüstenlandschaft aus Fels und Stein, die kaum ein Mensch je betreten hat. Mit Blick auf Eisbären, grasende Moschusochsen und Karibus. Mit Stops in kleinen Inuit-Siedlungen, deren bunte Holzhäuschen bisweilen schon ganz schief stehen auf dem tauenden Grund.

Als Jason ein letztes Mal ankern lässt, hat das Wetter umgeschlagen. Über der Beechey Insel hängen Wolken. Am Strand türmen sich verrottete Schiffsmasten, Nägel, alte Konservendosen. Es sind Überbleibsel vergangener Expeditionen. Am Ufer ein paar schlichte Holztafeln. Auf ihnen stehen drei Namen: John Torrington, William Braine und John Hartnell. Die drei Matrosen waren Teil der gescheiterten Arktis-Expedition Franklins. Sie starben 1846 und wurden hier unter Steinhaufen verscharrt. Daneben liegt eine polierte Marmorplatte zu Ehren des britischen Kapitäns. Sie ist auch eine Mahnung für die Seefahrer der modernen Zeit: Die Arktis ist unberechenbar.