Oberhausen. Interrail, das klingt nach Freiheit. Das war vor 40 Jahren, bei Einführung des Flatrate-Tickets für die Bahn, schon genau so wie heute. Mit jedem Fahrtschein kauft man zudem die Gewissheit, sich in ein Abenteuer zu stürzen.

Vor 40 Jahren öffnete eine Fahrkarte das Tor zur Welt: 1972 brachte die Bahn das Interrailticket auf den Markt. Europa rückte zusammen. Interrail bedeutete: Man kauft ein Ticket, mit dem man einen Monat kostenlos im Zug durch Europa reisen kann. 235 DM kostete der Pass damals. Mit dem Flatrate-Fahrschein geht’s seitdem zum Frühstücken nach Paris und am nächsten Tag zum Baden nach Spanien. Doch wer fährt im Fliegerzeitalter noch mit der Bahn? Ich habe mich auf den Weg gemacht. Eine Spurensuche zum 40. Geburtstag auf der Route von Danzig nach Wien. Mit Reiseführern, einem Polnisch-Wörterbuch und einem viel zu schweren Rucksack.

Danzig

Danzig, kurz vor der Europameisterschaft. Die Fußball-Maskottchen Slavek und Slavko winken den Besuchern von Wimpeln entgegen. Die Stadt hat sich herausgeputzt. Durch den mondänen Hafen flanieren die Touristen. Nur mit der Verständigung hapert es – ich verstehe noch nicht mal Bahnhof. „Glowny“ heißt „Hauptbahnhof“, schlage ich nach. An eine Reservierung für den Expresszug zu kommen, ist schon schwieriger. Die Mitarbeiterinnen können allenfalls Russisch als zweite Fremdsprache. Netterweise stehen hinter mir ein paar Studenten Schlange und übersetzen. So bekomme ich den Zettel mit Sitzplatznummer.

Danzig-Warschau

Machte sich für uns auf die Gleise: Redakteurin Fabienne Piepiora. Foto: Fabienne Piepiora
Machte sich für uns auf die Gleise: Redakteurin Fabienne Piepiora. Foto: Fabienne Piepiora © Fabienne Piepiora

Am nächsten Morgen sitze ich im Expresszug Richtung Warschau. Die Sitze sind durchgesessen, die Türen schließen nicht automatisch. „Czy mogę się do pana?“, nuschelt eine Frau und zeigt auf den leeren Platz neben mir. Ich verstehe kein Wort – und doch alles: Sie will sich setzen. Offenbar hat sie nicht mitbekommen, dass ich keine Polin bin – sie redet munter weiter auf mich ein. Ich nicke und lächle. Fünf Minuten später bietet sie mir Bonbons an. „Dziękuję“, antworte ich. Danke. Es ist eines der wenigen Wörter, die ich schon auswendig kann.

Die Bahn bummelt mit 70 Stundenkilometern durch die Landschaft. Polen ist ein boomendes Land, überall werden Strecken ausgebessert. Vom Fenster aus wirkt das Land wie bei einer S-Bahn-Fahrt, sagen wir von Dortmund nach Düsseldorf: An der Strecke reihen sich kleine Gärten auf. Dazwischen schäbige Hinterhöfe. Dann und wann grasen Kühe auf Feldern. Es ist ländlich und grün.

Warschau

Angekommen in der Hauptstadt, verirre ich mich erst einmal in dem Gewirr kleiner Altstadt-Gassen – und treffe Ben. Der 22-jährige Student aus New York erklärt mir den Weg zum Hostel, einer Billig-Absteige für junge Reisende. Es stellt sich heraus – er erkundet Europa ebenfalls mit der Bahn. Bevor er nach Polen kam, hat er sich München und Berlin angeschaut. Vor allem aber schwärmt er von „the german bahn“. „Alle Durchsagen sind auf Englisch. Das ist viel einfacher als hier.“ Die Züge seien pünktlich und schnell. Nach meiner Erfahrung mit der Express-Bahn kann ich ihn verstehen. Und sogar bedanken würden sich die Schaffner bei ihren Fahrgästen. „Sänk ju for träweling wis Deutsche Bahn“, ahmt er den deutschen Akzent nach. Ben findet das toll.

Nach zwei Tagen Großstadtleben wuchte ich meinen Rucksack wieder in den Zug. Vielleicht hätte ich mir ein paar Reiseführer sparen sollen. Nach meinen Erfahrungen mit der Expressvariante, zahle ich lieber den Zuschlag für den IC. Unterwegs treffe ich drei Slavistik-Studentinnen von der Ruhr-Uni Bochum. Sie besuchen eine Freundin in der Nähe von Kattowitz. Ihre schweren Rücksäcke lagern im Gang, die müden Beine haben sie ausgestreckt. „Ich find’ die Region kulturell interessant, deshalb habe ich mich für Slavistik entschieden“, erzählt Barbara, die hier nur Bascha genannt wird. „Die Polen sind so freundlich und hilfsbereit.“ Bei Kattowitz trennen sich unsere Wege.

Ein Lebensgefühl wie im Süden 

Krakau

Die Welt ist klein. Auf dem Marktplatz von Krakau treffe ich einen Engländer wieder, der zufällig die gleiche Stadtführung in Warschau mitgemacht hat. Auch er erkundet den Osten. Oft sind die Begegnungen flüchtig, da fühlt man sich bei so einem Wiedersehen direkt wie alte Bekannte.

So bunt ist Polen: Architektur an einem Markt in Krakau.Foto: Fabienne Piepiora
So bunt ist Polen: Architektur an einem Markt in Krakau.Foto: Fabienne Piepiora © Fabienne Piepiora

Krakau ist hübsch, in die Gassen schmiegen sich kleine Galerien und Geschäfte, es gibt dutzende Kirchen, Museen und natürlich die Burg. Bei der dritten Stadtführung ist mein Drang, noch mehr Gotteshäuser zu besichtigen, allerdings begrenzt. Ich setze mich lieber ans Flussufer und beobachte Leute. Abends packen ein paar Straßenmusiker ihre Klampfe aus und singen leidenschaftliche Lieder auf Polnisch. So schön klang die Sprache noch nie. Ein Lebensgefühl wie im Süden.

Krakau-Bratislava

Die längste Etappe steht an. Auf der Fahrt kommt mir vieles bahn-bekannt vor: Den reservierten Wagen gibt es nicht, der Zug hat Verspätung und das Umsteigen in Breclav ist die reinste Hetze. Tschechische Ansagen sind übrigens genauso unverständlich wie Polnische.

Von Breclav nach Bratislava gerate ich in das Party-Abteil. Auf dem Gang lagern kistenweise Stimmungsmacher. Aus den Lautsprechern wummert „Vamos a la playa“, die Jungs grölen mit. Ob es wohl einen Strand in der slowakischen Hauptstadt gibt?

Bratislava-Wien

Straßenkunst im Künstlerviertel von Krakau. Foto: Fabienne Piepiora
Straßenkunst im Künstlerviertel von Krakau. Foto: Fabienne Piepiora © Fabienne Piepiora

Zwischen Prunk- und Plattenbau liegen nur ein paar Meter. Eine Burg gibt es, natürlich. Einen hübschen-alten Marktplatz und zahlreiche Caféhäuser ebenso. Da macht sich der Wiener Einfluss bemerkbar. Bratislava beeindruckt, wenn es dunkel wird. Dann verwandeln sich alte Fabrikhallen und Galerien in Schauplätze für Partys und Konzerte.

Statt mit Bus oder Bahn fahre ich die nächste Strecke nach Wien mit der Fähre. Das dauert ebenfalls eine Stunde. Am Ufer stehen Hütten auf Stelzen. Sie gehören Fischern. Die Donau eigne sich gut zum Angeln, werden die Passagiere aufgeklärt. Die Fähre legt mitten in der Stadt an.

Meine Bleibe liegt direkt am Naschmarkt. Von hier starten so genannte „freie Stadtführungen“. Studenten und Ehrenamtliche zeigen ihre Heimat und kassieren dafür ein Trinkgeld. Das ist persönlicher und ich lerne nicht nur die klassischen Sehenswürdigkeiten kennen.

Wien-Ruhrgebiet

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Mein Interrailpass hat gelitten. Die Ecken sind geknickt, die Reisedaten kann man unter Kaffeeflecken kaum noch erkennen. Der Schaffner schaut trotzdem genau hin. „Junge Frau, da haben Sie ja viel gesehen“, sagt er anerkennend und erzählt von seiner weitesten Bahnfahrt. Damals hätten sie es mit Bahn und Schiff bis Marokko geschafft. Interrail verbindet nicht nur Länder, es bringt Menschen ins Gespräch.

In Deutschland ist die Bahn wieder ganz die alte: Die Lok hat einen Triebwerkschaden und die meisten Fahrgäste verpassen wegen der Verspätung beinahe ihren Anschluss in Frankfurt. Ich denke unweigerlich an die Lobeshymne des New Yorkers Ben. „Sänk ju for träweling wis Deutsche Bahn.“