Churchill. Rund 950 Eisbären sind an der westlichen Hudson Bay zu Hause. “Wer der Stadt zu nahe kommt, wird bis zum Abtransport per Helikopter mit Knast bestraft“, erklärt Touristenführer Steve Clubb und warnt vor dem “Walt-Disney-Syndrom“: Niedlich mögen sie sein, Kuscheltiere aber sind die Eisbären nicht.
Gleich hinter Winnipeg beginnt der Norden. Je weiter man in Kanadas östlichster Prärieprovinz Manitoba Richtung Arktis vordringt, umso karger wird die Landschaft. Ein knapp dreistündiger Flug ist der schnellste Weg nach Churchill an der Hudson Bay. Keine Straße führt dorthin. Der Zug braucht anderthalb Tage.
"Wo wollt ihr denn hin?", fragt Steve, als er die dick verpackten Ankömmlinge begrüßt. Die meisten hatten sich auf stärkere Kälte eingestellt. "30 Grad unter Null wären jetzt normal. Minus vier ist viel zu warm für diese Jahreszeit", meint der Mann von Churchill Nature Tours. Steve Clubb, 63, ist in der arktischen Natur zu Hause. Seit 23 Jahren führt er Reisegruppen durch die Tundra Kanadas.
Eisbären mit Magenknurren
"Die Eisbären kriegen Magenknurren von den milden Temperaturen", sagt Steve. "Erst wenn es kalt genug ist und die Hudson Bay zufriert, beginnt für sie die Robbenjagdsaison." Normalerweise vertreibt das brechende Eis im Juli die Bären vom Meer. "Kommt der Sommer nur eine Woche früher, kann das einen Bären bis zu zehn Kilo Körpergewicht kosten. Ähnliche Opfer fordern späte Winter", erzählt der Guide.
Der Helikopter dreht. Vorbei am Chistmas Lake geht es zurück zur Bucht. Am Halfway Point, ganz nah am Wasser, der erste Eisbär. Sitzt und gräbt nach Fressbarem oder scharrt sich einen windgeschützten Schlafplatz. Gleich daneben liegt ein zweiter.
Ehemaliger Stützpunkt des US-Militärs
Zwei Stunden über Tundra und Küste. Neun Eisbären aus der Vogelperspektive. Neun von 950 Tieren, die an der westlichen Hudson Bay zu Hause sind - unwesentlich mehr, als Churchill Einwohner zählt. In den 1940er und 1950er Jahren war der Ort ein Stützpunkt des US-Militärs. Aus dieser Zeit stammen die Hangars, die rund um die Stadt verstreut sind. Heute dienen die ausgedienten Flugzeuggaragen zivilen Zwecken. Die bekannteste ist das Eisbärengefängnis, zeitweilige Residenz allzu neugieriger weißer Räuber.
"Wer der Stadt zu nahe kommt, wird bis zum Abtransport per Helikopter mit Knast bestraft", sagt Steve. 4 von 28 Zellen des fensterlosen Gebäudes sind momentan besetzt. Einer der Insassen protestiert mit lautem Gepolter. Keine Chance, das nächste Ticket in die Tundra gibt's erst in einer Woche. Wer Pech hat, kommt in einen Zoo.
"Walt-Disney-Syndrom"
"Oft genügen ein paar Schreckschüsse. Die Bären mögen den Krach nicht und verziehen sich in Richtung Wasser. Vier Fahrzeuge mit bewaffneten Leuten sind ständig unterwegs in und um Churchill", berichtet Steve. Etwas Ernsthaftes sei selten passiert. Die letzte tödliche Attacke auf einen Menschen habe man Mitte der 70er erlebt. "Schuld war der pure Leichtsinn", meint Steve. "Wir nennen es das Walt-Disney-Syndrom. Viele Leute finden die Bären niedlich, wollen sie am liebsten streicheln, bedenken aber nicht, dass es sich um gefährliche Raubtiere handelt. Ein Mensch ist für sie nichts anderes als Fleisch und Knochen.
Weiter nordöstlich hält der Jeep vor dem Hangar von "Great White Bear". Das Unternehmen bietet Touren, zu denen es auch gleich die fahrbaren Untersätze herstellt. "Polar Rovers" nennen Marilyn und Don Walkoski ihre 15 Tonnen schweren, geländegängigen Vehikel mit bis zu 40 Sitzplätzen. Dank der Riesenräder genießt man aus den Monster-Ausflugsbussen weitreichende Aussichten. Fahrer Bill kennt den Weg, auch wenn es in der Tundra keine Straßen gibt. Über Bird Cove, eine felsigen Landnase, geht es zur Great White Bear Lodge. "Das rollende Hotel steht die ganze Wintersaison an der Küste. Wenn du Glück hast, weckt dich früh ein Eisbär. Ein erwachsenes Männchen erreicht bequem die Fenster. Die größten Exemplare bringen es stehend bis auf vier Meter", weiß Steve.
Nichts für schwache Menschennerven
Der erste Eisbär an diesem Morgen liegt in Steinwurfweite zwischen Büschen auf dem Rücken und streckt alle Viere in die Luft. Am Gordon Point kommt ein anderer schließlich geradezu bis auf Tuchfühlung heran, läuft eine Ehrenrunde für die Kameras und macht es sich dann unmittelbar hinter dem Polar Rover bequem. Vom Austritt am Ende des Fahrzeugs kann man sein Atmen hören. Dutzende Begegnungen folgen.
Am meisten beeindruckt eine Eisbärenmutter, die ihrem Nachwuchs offenbar zeigen will, was Menschen sind und wie sie sich verhalten. Schnurstracks läuft das Weibchen auf das Fahrzeug zu. Ihr Junges, ängstlich, aber neugierig, dicht an ihrer Seite. Aus nächster Nähe mustern sie das große weiße Ding - ein Riesenbär mit schwarzen runden Beinen? Dann stellt sich die Mama auf die dicken Hintertatzen und steckt die große Nase durch das Fenster. Zu fressen gibt es nichts, auch wenn es noch so lecker riecht. Dafür sieht sie versteinerte Zweibeiner, die vor lauter Aufregung das Fotografieren vergessen.
Brunch mit frischem Robbenfleisch
Ein begehrtes Bildmotiv ist auch ein Brunch mit frischem Robbenfleisch, bei dem sich vier erwachsene Tiere beobachten lassen. Ganz rosa gefleckt sind sie vom Blut, wie man durchs Fernglas deutlich sieht. Nichts für schwache Menschennerven, doch gut für leere Bärenbäuche. Endlich ist es kalt genug. (dapd)