In den Kurven wechselt ständig die Beleuchtung über dem kanadischen Urwald: mal dunkelgrün, mal silbrig schimmernd, aber immer harmonisch aus der Farbwerkstatt des Mischwaldes.
„Eine Elchkuh mit ihrem Jungen links vorne”, tönt es da plötzlich aus dem Zuglautsprecher, und schon drängen alle zu den Fenstern auf der linken Seite. Viel zu rasch gleiten die beiden Tiere vorbei, doch das aufkommende Abendrot entschädigt alle.
Kanada hat Landschaft im Überfluss. In sieben Zeitzonen leben nur 34 Millionen Menschen zwischen Atlantik und Pazifik, zwischen der Arktis und den USA, die meisten davon in einem 200 Kilometer breiten Streifen nördlich der amerikanischen Grenze. Als die kanadische Konföderation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach und nach zusammenwächst, ist Britisch Kolumbien im Westen immer noch von anderen Regionen isoliert. Erst das Versprechen, die Eisenbahnverbindung bis Vancouver fertigzustellen, lässt die Westprovinz schließlich beitreten.
Zur damaligen Jungfernfahrt lassen sich der kanadische Premierminister und seine Frau mit Klappstühlen auf den Kuhfänger der Lokomotive schnallen, um die Bergwelt zwischen Edmonton und Vancouver besser beobachten zu können. Inzwischen kommen Touristen aus allen Ländern. Enkel und Neffen besuchen Verwandte auf ihren Farmen in der Prärie. Oder in den Vorstädten von Vancouver und Toronto. In Vancouver, der Stadt am Pazifik, beginnt die Reise des „Canadian”, eines Zuges mit matt glänzender Aluverkleidung.
Die Weltstadt ist mehrheitlich von asiatischen Einwanderern bewohnt. Sie schätzen, wie zahlreiche Touristen auch, die unvergleichliche Lage zwischen Küstenkordillere und verschlungenen Buchten und Fjorden am Meer. Vom Grouse Mountain oberhalb der Stadt, dessen Ausstellungen, Restaurants und Parks mit der Gondelbahn erreicht werden können, schweift der Blick über den Binnenhafen hinüber bis zum Bahnhof von Vancouver. Von hier aus führt der Schienenstrang quer durch den größten Teil des riesigen Staates, über circa 5000 Kilometer durch fünf Provinzen nach Toronto am Ontariosee.
Am Bahnhof Vancouver spielt vor der Abreise eine Band, Getränke werden ausgegeben, Koffer eingecheckt wie am Flughafen. Unbeschwert, mit kleinem Handgepäck steigt man ein. Das schwere Gepäck ist bereits im gebuchten Wagen oder Abteil. Für europäische Bahnunternehmen wahrlich ein Vorbild: Schaffner stellen sich mit Vornamen vor, bauen Sitze in bequeme Betten um, fungieren als kundige Fremdenführer. Drei Tage und drei Nächte sind die Passagiere nun unterwegs. Je nach Geldbeutel bucht man ein Schlafabteil mit WC, oder die günstigere Variante, einen Schlafsessel. Der Zug hat es nicht eilig, vielleicht 60 Kilometer pro Stunde im Durchschnitt – der Weg ist das Ziel. Der Zug ist kein Transportmittel, sondern die Fahrt das Ferienerlebnis an sich.
Bald nach der Abfahrt erfolgt der Aufruf zum Abendessen. Es gibt keine reservierten Plätze wie bei Schiffkreuzfahrten, sondern man sitzt in gemischter Runde, alles sehr unkompliziert und leger. Am zweiten Tag durchquert die Bahn Saskatchewan und Manitoba, die Prärieprovinzen. Bäume gibt es jetzt selten zu sehen. Rinder und Pferde weiden auf schier unendlichen Flächen, dann zieren wieder rund gepresste Heuballen wie ein Mosaik die flachen, goldgelben Weiden. „Wenn dir hier dein Hund abhaut, kannst du noch nach zwei Stunden am Horizont erkennen, ob er gerade mit dem Schwanz wedelt”, sagen Farmer, die solcher Einöde trotzen. Es gibt zahlreiche Bedarfshaltestellen. Eine aufgestellte Fahne am Gleisbett zeigt dem Lokführer an, dass jemand hier einsteigen möchte.
Originelle Begebenheiten tragen sich zu. Der Zug folgt dieser Aufforderung. Nichts geschieht. Lokführer und Schaffner steigen aus und warten. Jetzt ruft jemand vom Hügel herunter. Vorsichtig steigt eine Familie herab. Eine offenbar zerbrechliche Ware trägt sie über die Steine vor sich her. Es ist die Geburtstagstorte für die Tante aus Edmonton, die genau in diesem Zug sitzt. Das Kunstwerk aus Zucker, Sahne und Karamell wird über die Treppen hineinbugsiert und unter großem Hallo während der Weiterfahrt verspeist. Die letzte Etappe beginnt. Sommerhäuser stehen zwischen kleinen und großen Seen. Fast unmerklich verlässt man die Wildnis, die Metropole Toronto naht.
Die Innenstadt wird von unten erreicht. Der Zug hält unter Tage. Nur eine Rolltreppe trennt den Bahnhof Union Station vom Stadtzentrum. Das Reinigungskommando rollt an. Droben in der City brodelt das Leben.