Tallinn. . In Estlands Hauptstadt Tallinn können Besucher den Langen Hermann und die dicke Magarethe bewundern, Marzipan genießen und die Geschichte der Stadt erkunden. Nur vor dem Gnom aus dem Ülemiste-See sollte man sich in Acht nehmen.
Vor der malerischen Silhouette der Altstadt erhebt sich in der Tallinner Bucht ein futuristisches Denkmal für die mutigen und unternehmungslustigen Menschen. Es erinnert an einen 1889 verunglückten Luftschiffer und Fallschirmspringer. Heute führen weit weniger gefährliche Wege in die estnische Hauptstadt mit ihren Türmen und Türmchen, roten Ziegeldächern, alten Gildehäusern und den vielen prächtigen Bauten. An den Besucherzahlen gemessen, belegt Tallinn den dritten Platz als Ostsee-Kreuzfahrthafen.
Das Kulturhauptstadtjahr und die Einführung des Euro bescherten der mittelalterlichen Perle Europas 2011 einen Besucherrekord. Doch für unternehmungslustige Menschen, die die einstige Hansestadt im nördlichsten und kleinsten der drei baltischen Staaten noch nicht für sich entdeckt haben, bleibt alle Zeit der Welt. Schließlich hat jede Jahreszeit ihr eigenes Gesicht.
Tallinn hat sogar zwei, wie es heißt. Treffen doch hier Mittelalter und Moderne aufeinander. Einerseits machen die eindrucksvollen Bauten des Mittelalters den Städtetrip zu einem Spaziergang durch ein Geschichtsbuch. Mittelalterlich gekleidete fliegende Händler und Kellner in den engen kopfsteingepflasterten Gassen mit Geschäften, Restaurants und gemütlichen Cafés verstärken den Eindruck. Andererseits wartet an jeder Ecke die Moderne. Parkgebühren etwa zahlen die meisten Bewohner mit dem Handy. Überall, sogar im Wald, kann man mittels Laptop mit der ganzen Welt kommunizieren.
Die Altstadt ist Welterbe
Gegründet wurde die Stadt, die bis 1918 Reval hieß, 1230 von deutschen Kaufleuten und vom Schwertbrüderorden. Zwei Beine, ein langes und kurzes, verbinden Unter- und Oberstadt, wie die Einheimischen sagen. Gemeint sind die malerischen Wege durch baumumsäumte Alleen und farbenfrohe Parks. "Alles, was über drei Meter hoch ist, wird bei uns als Berg bezeichnet", behauptet die stadtbekannte junge Köchin Ingrem Raidjoe, "und wir haben viele Berge." Auf dem Domberg der Oberstadt, einem Kalksteinplateau, residierten jahrhundertelang Adel und Klerus und blickten so auf die Handwerker und Kaufleute in der Unterstadt herab.
Heute sind es die Touristen, die den Blick über die Dächer bis zum Meer genießen. Einst schützte eine mächtige Stadtmauer die 1997 zum UNESCO-Welterbe gekürte Altstadt. Allein die erhalten gebliebenen zwei Drittel mit über 20 Wachtürmen sind beeindruckend. Der Lange Hermann allerdings gehört zum Schloss. Die Flagge, die jeweils auf dem 1371 erbauten, 46 Meter hohen Eckturm weht, zeigt an, wer gerade herrscht.
Und es waren viele fremde Herren, bis 1989 die blau-schwarz-weiße Flagge der Esten gehisst werden konnte. Dem Langen Hermann werde man oft begegnen, sagt Ingrem Raidjoe, bevor sie ihre Gäste zum Kochevent in ihr Restaurant "Köök" entführt. Nicht zu verwechseln mit "Kiek in de Kök". Von diesem mit 38 Meter größten Geschützturm des Baltikums lugten der Überlieferung nach die Wächter in die Kochtöpfe der Unterstadt. Jetzt beherbergt er ein Museum zur Stadtgeschichte.
St. Olaf war einst der höchste Turm der Welt
Der Lange Hermann sei das Symbol für einen starken Mann, erklärt die Köchin, während sich ihre Gäste die Schürze umbinden. Deshalb heiße der mächtigste Turm in allen estnischen Orten Langer Hermann. "Wir haben aber auch eine Dicke Margarethe, und das hat nichts mit dem Essen zu tun." Der runde Wehrturm sollte die Seefahrer schon von weitem durch seinen imposanten Durchmesser von 25 Metern beeindrucken. Heute ist hinter Margarethes vier Meter dicken Mauern das Schifffahrtsmuseum zu Hause.
Die Hansestadt brauchte wegen ihrer strategisch günstigen Lage eine starke Verteidigung und war auch ein bisschen größenwahnsinnig. Tallinns Stadtväter wollten einst mit St. Olaf die höchste Kirche bauen, um Händler in die Stadt zu locken. Die Legende um den gotischen Kirchturm erinnert an das Märchen von Rumpelstilzchen. Denn der Baumeister für den mittelalterlichen "Turmbau zu Babel" wollte auf seinen Lohn verzichten, falls die Stadtväter seinen Namen herausfänden, was ihnen gelang.
Zwischen 1549 und 1625 galt der Turm von St. Olaf mit 159 Metern als höchster Turm der Welt. Wer die 258 Stufen hinaufklettert, wird mit einer herrlichen Aussicht belohnt. Jedes Ding muss eine Geschichte haben. Und es gibt viele Geschichten, die noch nicht erzählt sind. Wer mit Jüri Kuuskemaa, einem estnischen Kunsthistoriker, unterwegs ist, wird sie erfahren. Denn er erzählt auch vom Alten Thomas, wie die Männchen-Wetterfahne auf dem Rathaus genannt wird, die zum Symbol der Stadt wurde.
Kommt das Marzipan aus Tallinn?
Und er behauptet, dass das Marzipan in Tallinn erfunden wurde. Noch heute wird es im ältesten Kaffeehaus Estlands, Maiasmokk (Leckermäulchen), hergestellt. Längst am gotischen Rathausplatz angelangt, steht man auch schon vor der Rathausapotheke, wo angeblich alles anfing. Natürlich weiß Jüri Kuuskemaa dazu eine Legende.
Zunächst soll das vom Apotheker für einen Ratsherrn gemixte Medikament bitter gewesen sein. Beim Vorkosten wurde er selbst krank. Sein gewitzter Gehilfe Mart ersetzte einfach die bitteren Ingredienzien und es entstand die süße Medizin, die auch bei Liebeskummer helfen soll. Überliefert ist, dass zwei Konditoren unabhängig voneinander 1806 die ersten Marzipanmanufakturen im deutschsprachigen Raum gründeten, eine in Reval und die andere in Lübeck.
Die Tallinner Rathausapotheke ist zudem eine der beiden ältesten noch heute funktionierenden Apotheken Europas. Jetzt vertreibt sie nicht nur moderne Heilmittel, sondern zeigt in den hinteren Räumen auch Museumsstücke aus den Anfängen der Apothekerkunst. Darüber hinaus kann dort der Kräuterschnaps "Klarett" nach mittelalterlichem Rezept probiert werden.
Nationalepos Kalevipoeg
Jüris Führung endet garantiert mit der Warnung: "Sollten Sie jemals angesprochen und gefragt werden, ob Tallinn endlich fertig sei, dann müssen Sie unbedingt mit Nein antworten." Jedes Jahr in einer Herbstnacht krieche ein Gnom aus dem Ülemiste-See, klopfe ans Stadttor und stelle diese Frage. Wäre Tallinn fertig, würde der Gnom den See über seine Ufer treten und die Stadt überschwemmen lassen.
Das Wasser des Ülemiste-Sees hatte übrigens Kalevipoegs Mutter aus Trauer um seinen Vater Kalev geweint. Aber diese Geschichte gehört schon zum Nationalepos. Beim Bummel durch Tallinn wird jeder Besucher feststellen, dass die Esten haben nicht nur ihre Legenden am Leben, sondern auch ihre Traditionen in Ehren gehalten haben. (dapd)