Tallinn. .

Tallinn ist die Kulturhauptstadt 2011 - und hat viel dafür getan. Es öffneten 90 neue Kasinos, das Parteischulungszentrum wich einem Freizeitpark, Bankentürme wuchsen in die Höhe. Und kostenlosen Zugang zum Internet gibt es auch.

Das ist nicht das Tallinn, das ich kenne. Vor Jahren im Winter, von Schnee und Raureif überzuckert, hatte sich mir die estnische Hauptstadt als Winterkönigs Märchenreich präsentiert. Jetzt sehe ich vor lauter gleißenden Glastürmen kaum mehr den „langen Hermann“ auf dem Domberg, das Symbol des Landes, auf dem blau-schwarz-weiß die estnische Trikolore weht und das Parlament residiert. Tallinn, das die Nabelschnur zur neueren Geschichte rabiat durchtrennt hat, häutet sich erneut.

Der baltische Tiger hat zwar in der Weltwirtschaftskrise an Biss verloren. Aber Tallinn, 2011 zusammen mit dem finnischen Turku europäische Kulturhauptstadt, zeigt dem, was man einmal Raubtierkapitalismus nannte, die Zähne. Eine architektonische Variante des Märchens „Die Schöne und das Biest“. Die Bauwut schlägt ihre Schneisen in die Stadt. Allein 90 Kasinos schossen im „Las Vegas des Baltikums“ aus dem Boden, das Parteischulungszentrum musste einem Freizeitpark weichen, Bankentürme wuchsen in den blaugrauen Himmel am Finnischen Meerbusen. Und mit dem Programm Tigrihüppe, einem Tigersprung, katapultierte sich Tallinn in die Riege der „High-Tech-Cities“, inszeniert sich als cooles Zukunftslabor. Der Staat garantiert den kostenlosen Zugang zum Netz. Auch dieses „Grundrecht“ haben sich die Esten ersungen, als sie zu Tausenden in der Konzertmuschel auf dem Sängerfeld zusammenkamen und Freiheitslieder intonierten.

Ober- und Unterstadt gehen gerne getrennte Wege

Die „singende Revolution“ brachte 1991 die ersehnte Unabhängigkeit von Russland, mit dem Eintritt in die Europäische Union hat Estland die Türen für den Zeitgeist weit aufgemacht. Die Stadt erfindet sich neu. Wieder einmal. Nach dem 2. Weltkrieg war es eine Frage des Überlebens: 53 Prozent der Wohnfläche waren bei einem russischen Bombenangriff im März 1944 zerstört worden. 80 000 Menschen – vorwiegend Russen – kamen später in den trostlosen Plattenbau-Satelliten aus den 70er Jahren unter. Wallanlagen und Wehrtürme sind die Wahrzeichen des Dombergs, des ältesten und

geschichtsträchtigsten Teils von Tallinn. Die Dänen hatten die steinerne Trutzburg im 13. Jahrhundert errichtet und damit den Grundstein für Tallinn (Dänenstadt) gelegt, dann kamen die deutschen Ordensritter, später die Schweden, danach die Russen unter Peter dem Großen. Katharina II. ließ einen Teil der Burg abreißen und ein Barockschloss errichten. Die von schwarzen Zwiebeltürmen gekrönte Alexander-Newski-Kathedrale sollte eine steinerne Machtdemonstration des letzten Zaren sein. Vergebliche Müh. Nach dem ersten Weltkrieg erzwangen die Esten die Unabhängigkeit, die 1941 mit der Besetzung durch die Nazis endete und schließlich in die langen Jahre der sowjetischen Okkupation mündete.

Der Domberg, wo einst Adel und Geistlichkeit zu Hause waren, thront heute wie damals scheinbar unbeeindruckt über der Unterstadt, die früher von Kaufleuten und Handwerkern geprägt war und als Hansestadt nach Lübecker Recht entschied. Droben auf dem 40 Meter hohen Kalkfelsen herrschte dagegen das Lehnrecht. Bis heute, heißt es, gehen Ober- und Unterstadt gerne getrennte Wege.

Der Salon der Stadt

Kadriorg ist der Salon der Stadt. Mitten drin in dem Ensemble aufwändig restaurierter Barock- und Gründerzeitbauten hat der estnische Staatspräsident seinen Amtssitz. Herz der Gegend, wo die Zaren gerne ihren Urlaub verbrachten, ist das Barockschloss, das Peter der Große für seine Frau Katharina errichten ließ und das der Gegend ihren Namen gab: Katharinental.

Der Kontrast zum nahe gelegenen, supermodernen Kunstmuseum könnte nicht größer sein. Das halbrunde Gebäude aus Glas, Beton und Kupferblech, 2006 eröffnet, ist das größte und modernste Museum des Baltikums und wirkt, so ein Architekturkritiker, wie „ein Halbmond auf einer Rutsche“. Es darf sich mit dem „European Museum of the Year Award 2008“ schmücken. In den langen gebogenen und von Licht übergossenen Innenräumen präsentiert sich auf einer Ausstellungsfläche von 5000 Quadratmetern estnische Kunst vom 18. Jahrhundert bis heute.

Reval war lange Zeit für mich nur eine Zigarettenmarke. Doch Tallinn ist auch Reval. So nannten deutsche Kaufleute die Stadt, die sie am Fuß des Hügels gründeten und die 1248 der Hanse dann sogar beitrat.

Reval ist nicht nur eine Zigarettenmarke

Und der Name Reval, nach der estnischen Landschaft Rävala, hielt sich bis zum 24. Februar 1918. Noch heute scheint man ihn ganz gerne zu hören. Reval ist präsent in einer Hotelkette und einem Busunternehmen. Reval.com ist ein Investment-Unternehmen. Passend: Reval stand für die Hoch-Zeit der Hanse und eine Blütezeit der Stadt. Weil sämtliche vorbeikommende Waren vor den Toren der Stadt gestapelt werden mussten, verdienten die Kaufleute gut am erzwungenen Zwischenhandel.

Dann doch noch die Altstadt: ein kompaktes Architekturgewürfel aus Gotik, Barock, Renaissance und Gründerzeit, putzig wie eine Märklin-Stadt. 850 Jahre Architekturgeschichte auf engstem Raum, Weltkulturerbe und eine estnische Variante des romantischen Rothenburg ob der Tauber. Über das holprige Kopfsteinpflaster stöckeln mit nachtwandlerischer Sicherheit bildschöne Estinnen auf mörderisch hohen Absätzen. Touristen schieben sich durch die Souvenirstände mit Wollsachen und Bernstein-Schmuck . Am Marktplatz tobt das Leben. „Erotica“ schreit es von einem Poster, ein „Henker“ lädt ins Foltermuseum, hübsche Mädchen in alter Tracht verkaufen vor dem Restaurant Alte Hanse gebrannte Mandeln.

Dass bei den Drei Schwestern, einem Ensemble von drei Häusern, das ein Kaufmann vor 500 Jahren für seine drei Töchter errichten ließ und das heute das teuerste Hotel der Stadt beherbergt, Männer mit Bowler und Frauen in langen Röcken herumlaufen, wirkt fast schon normal, ist aber einem Filmdreh zu verdanken. Mit ihren gotischen Spitzbögen, prächtigen Erkern und mächtigen Kirchtürmen ist die Innenstadt eine perfekte Kulisse, in der eigentlich nur die grölenden Touristen stören, die sich am Bier nicht satt trinken können.