Ittoqqortoormiit. Wer einmal Grönland besucht hat, kann über die hiesigen Winter nur noch müde lächeln. Auch eine Schiffsexpedition bleibt zuweilen mal im Eis stecken.

Nichts geht mehr. Wir stecken im Eis fest, mitten in der Nacht. Der russische Kapitän Yaroslaw Gonta lässt die Suchscheinwerfer anknipsen: Endlose Treibeisfelder stoppen die Weiterfahrt der „Sea Spirit“ durch das größte Fjordsystem der Erde, den Scoresby-Fjord. Die bis zu 2000 Meter hohen, schneebedeckten Berge an der Ostküste Grönlands kappen jeden Funkkontakt, Internet und Telefon gibt es schon seit Tagen nicht mehr.

Am Morgen noch hatte der Kapitän auf der Brücke mitten im September Weihnachtslieder gesungen. Es rieselte der erste Schnee vom arktischen Himmel herab, an dem drei Tage zuvor gegen Mitternacht Polarlichter zu sehen waren. Und nun: Grönland – ein Winterwonderland. Von der entspannten Stimmung ist jetzt nichts mehr zu spüren. „Wäre ich doch nur in der Karibik unterwegs“, sagt der Seemann aus der Schwarzmeermetropole Odessa. Und er meint es ernst.

„Stuck in the ice party“: Whisky mit Gletschereis

Die gut 100 Passagiere genießen trotzdem die Zwangspause. Sie lassen sich bei der „Stuck in the ice party“ den Whisky mit Gletschereis servieren und gucken in der Schiffsbibliothek Urlaubsfotos an. Einer fotografiert sogar per Drohne. Digitale Kleinode einer atemberaubenden Seereise zum größten Nationalpark der Erde. Fest gebucht: polare Natur pur – und die Hoffnung, Eisbären zu sehen.

Zehn Tage dauert der Törn auf der 90 Meter langen „Sea Spirit“ von Island in die bis zu 2000 Meter hohen grönländischen Fjorde. Das Schiff gehört, 1991 als „Renaissance V“ gebaut, zur russischen Reederei „Poseidon Expeditions“. Es verfügt über eine eigene Eisklasse für polare Regionen und ist das kleinste deutschsprachig geführte Expeditionsschiff überhaupt. Mit Zodiacs, den bewährten Schlauchbooten, finden auf dieser Reise rund 20 Anlandungen statt. So erkunden die Passagiere abgelegene Regionen der ostgrönländischen Tundra, die im Jahr nur sehr selten von Menschen erreicht werden. Der Winter beginnt. „Wer“, raunt ein Passagier bei der Eisparty , „soll uns hier rausholen, wenn wir längere Zeit festsitzen?“

Größte Insel der Erde

Man muss schon etwas abenteuerlustig sein, um eine solche Schiffsreise zu unternehmen. In der isländischen Hafenstadt Akureyri waren wir an Bord gegangen. Bei der eintägigen Passage durch die wegen ihrer Stürme gefürchteten Dänemark-Straße sahen wir Delfine und Sturmmöven, bis die ersten Eisberge am Horizont auftauchten – bizarre Kunstwerke, geformt aus Wind und Wellen. Unter dem Wasser schimmerten sie blau, bis sie im Sonnenlicht über dem Wasser pittoresk weiß strahlende Formen entfalteten.

„Gruppe A“, tönt eine Stimme aus den Lautsprechern. Am zweiten Tag an Bord heißt es: Fertigmachen für den ersten Landgang. Rettungsweste, Gummistiefel, Polarjacke – und dann ab in die Schlauchboote. Dmitri, der russische Biologe, startet den Motor, und nach rasanter Fahrt erreichen wir die Mückenbucht (Myggbukta). Die einsame Gegend ist für die Dänen zum nationalen Symbol geworden: Im Jahr 1931 besetzten norwegische Pelzjäger die Bucht, hissten ihre Nationalflagge und beanspruchten das Gebiet für Norwegen. Dänemark fühlte sich provoziert und übergab den Fall an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Am Ende bekam Dänemark Recht. Bis heute gehört Grönland – mit seinen 56.000 Einwohnern und einer Fläche von 2,1 Millionen Quadratkilometern die größte Insel der Erde – zu Dänemark.

Durch die Treibeiswüste

Nach der Nacht im Eis bricht ein neuer Morgen an. Es scheint, als könnte es einen Weg durch die Treibeisfelder geben. Wie in Zeitlupe navigiert Kapitän Gonda durch das Eis, wir wollen endlich heraus auf die offene See. Unser Ziel: die Inuit-Siedlung Ittoqqortoormiit. Insgesamt 15 Stunden lang wird der Kapitän auf der Brücke stehen und uns schließlich wohlbehalten aus der Treibeiswüste herausbringen. Die Gäste nutzen die langsame Fahrt, um zu dösen oder Fotos anzuschauen. Eine Gruppe von 45 Thailändern zeigt stolz ihre Selfies, mal mit selbst gebautem Schneemann, mal mit dem Waltershausen-Gletscher im Hintergrund. Dieser elf Kilometer lange und etwa 20 Meter hohe Gletscher lässt alle Passagiere staunen. Er wurde nach dem deutschen Geologen Wolfgang Sartorius von Waltershausen benannt, der die Fjorde in der Mitte des 19. Jahrhunderts erkundet hatte. Vorsichtig nähern sich die Zodiacs der Gletscherwand, als die ersten Thailänder zu schreien beginnen. Tatsächlich brechen auf einmal riesige Eisbrocken ab und stürzen in die Tiefe. Langsam baut sich im Wasser eine nicht ganz ungefährliche Welle auf, zum Glück sind wir weit weg, sodass keines der Boote kentert.

„So etwas habe ich noch nicht gesehen.“ Anja Erdmann ist wirklich beeindruckt. Die 38-Jährige arbeitet seit vielen Jahren als Expeditionsleiterin für Poseidon Expeditions, kennt die Arktis genauso wie die Antarktis. Ihre Liebe zu den polaren Regionen begann für die Cottbuserin hier, in Grönland. Sie spricht fließend Grönländisch und gibt den Passagieren einen Crash-Kurs in dieser Sprache. Sie fasziniere an der Arktis die Mischung aus Natur, Kultur und Begegnung mit den Menschen, sagt sie. So vergehen die Tage an Bord mit ganz eigenem Rhythmus. Landeskundliche Vorträge, Anlandungen und feste Essenszeiten im Restaurant prägen den Ablauf. Die Fahrten durch den Keyser Franz Josef Fjord und den Kong Oscar Fjord mit dem von 2000 Meter hohen Bergen umgebenen Alpefjord lassen die Zeit vergessen und einzigartige Augenblicke und Stunden erleben. Zum Beispiel die Polarlichter, die als solares Feuerwerk über den klaren nächtlichen Himmel huschen und die Passagiere nach Mitternacht auf die Decks locken.

Bedrohung durch hungrigen Eisbären

Die Polarreisenden schauen durch ihre Ferngläser, um vielleicht den einen oder anderen Eisbären auf einer Scholle oder an Land zu sehen. Aber diese Reise bietet leider kaum Gelegenheit, Tiere zu sichten. Vögel sind genauso selten wie die imposanten Moschusochsen. Wer das Glück hatte, einen Polarfuchs oder einen Polarhasen zu fotografieren, zeigt die Bilder mit einem Stolz, als würde es sich dabei um kleine Reliquien handeln. Sollte Ittoqqortoormiit die Wende bringen?

Veranstalter

Poseidon Expeditions bietet die elftägige Reise „Erlebnis Scoresbysund“ von Reykjavik nach Reykjavik (13. bis 23. September 2016) ab 3395 Euro pro Person. Auch Hurtigruten oder Hapag-Lloyd Cruises haben verschiedene Expeditions-Kreuzfahrten (Arktis und Antarktis) im Programm.

Am Morgen taucht die Siedlung schemenhaft im Nebel auf. In dem „Ort mit den großen Häusern“, so heißt der Name übersetzt, leben rund 450 Einwohner, darunter 54 Schulkinder. Die Siedlung gilt zusammen mit Quaanaaq als die isolierteste Siedlung Grönlands. Die Menschen leben vom Walfang und neuerdings vom Tourismus. Als wir anlanden, herrscht große Aufregung im Dorf. Ein Eisbär war mitten ins Dorf gelangt, hatte auf der Müllkippe nach Essbarem gesucht und danach die Flucht vor bewaffneten Männern ergriffen. Sie wissen, dass in der ganzen Arktis nur noch rund 30.000 Eisbären leben. Sollten die Tiere aber Leib und Leben der Einheimischen akut bedrohen, werden sie erschossen.

Oben auf dem Berg stehen zwei Inuit, ein Fernglas in der Hand. Ihr Blick ist auf einen Punkt ganz in der Ferne gerichtet. Es ist der Eisbär auf Nahrungssuche. Ob er heute noch lebt, das wissen allein die Leute von Ittoqqortoormiit.