Essen. Kein anderer Fluss mutet dem Reisenden mehr magische Momente und mehr Wechselbäder der Gefühle zu als der Ganges auf seinem 2600 Kilometer Lauf.

Vor ein paar Tagen, im Großstadt-Dschungel von Varanasi, der Stadt, die früher in Europa als Benares bekannt war: grelle Sonne, Hitze und Chaos. Der Weg zum Fluss, den sie in Indien Ganga Mata nennen, göttliche Mutter Ganges, führt durch alle Düfte, Geräusche, Gerüche, Farben und Bilder dieses Landes, so anziehend wie abstoßend, so anarchisch wie letztlich doch funktionierend.

Pralle Lebenslust im Univiertel, junge Leute mit dem Coffee-to-go-Becher in der einen, das Smartphone in der anderen Hand. Prunk und Protz im Hochzeitszug einer reichen Familie, der, ausgleichende Gerechtigkeit, im Verkehr stecken bleibt wie der Karren, den der zerlumpte Lastenträger zieht. Motorrikschas weichen dösenden Kühen aus, Filmmusik aus Bollywood überschallt einen Straßenmarkt, Krüppel schleppen sich von einer Ecke zur anderen. Indien wie es tobt, singt, lacht – und stirbt.

Priester singen ihre Mantras für die Seligen

Denn nur wenige Schritte entfernt, am Ganges, lodern die Feuer der Scheiterhaufen, singen Priester ihre Mantras für die Seligen, die hier, am heiligsten aller Flüsse, sterben durften. Direkt daneben waschen sich Tausende frommer Hindupilger im brackigen Wasser ihre Sünden von Leib und Seele, beten Junge, Alte, Kerngesunde und Schwerkranke im Angesicht dieses Ortes tiefster religiöser Verehrung, so unbegreiflich wie faszinierend.

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Kein anderes Land auf der Welt bietet schärfere, schmerzhaftere Kontraste, kein anderer Fluss mutet dem Reisenden mehr magische Momente zu, mehr Wechselbäder der Gefühle, als der Ganges auf seinem 2600 Kilometer Lauf von den eisigen Höhen des Himalaya zum Delta am Golf von Bengalen. Und keine andere Reiseform stellt sich dieser Herausforderung so direkt und zugleich so behutsam und so sicher wie eine Reise mit einem Flussdampfer, zum Beispiel auf der kürzest möglichen Etappe, sieben Tage zwischen Patna und Kalkutta, der aufregenden, vielfach verkannten Stadt, die heute offiziell Kolkata heißt.

Einstieg in Patna. Vor der Metropole des Bundesstaates Bihar, im Altertum die historische Hauptstadt des mächtigen Maurya-Reiches, liegt die Rajmahal vor Anker. Ein Beiboot, das uns in den nächsten Tagen zu Ausflügen an die lehmigen Ufer bringen wird, tuckert hinüber zum schwimmenden Königspalast, dies die Bedeutung des Schiffsnamens. Gracy und Song Song, zwei Schwestern aus dem fernen Naga-land, begrüßen die Neuankömmlingen mit einem Lächeln und einem frisch gepressten Mangosaft.

Sympathisch-familiäre Atmosphäre

Kunal Singh, Cruise Director und Chefreiseleiter, stellt am Nachmittag im Salon die Besatzung vor. Knapp dreißig gute Geister umsorgen auf dieser Tour gerade mal zwanzig Passagiere. Von Kapitän Biswajit Sarkar über Abdul Aziz, den Lotsen, bis hin zu den Wäscherei-Jungs Moti und Pappu, strahlen sie Ruhe und Verlässlichkeit aus. Der Salon erinnert an einen anglo-indischen Club aus der Kolonialzeit, wie man ihn vielleicht aus den großen Indienfilmen kennt. Er ist, wie alle öffentlichen Räume und die Kabinen, mit Sesseln und Rattanstühlen nostalgisch möbliert.

So angenehm das Ambiente, so sympathisch-familiär die Atmosphäre. Dazu passt der legere Dresscode zu allen Tageszeiten. Dieser Stil gefällt dem internationalen Publikum. Kunal Singh – ein Gast nennt ihn Mr. Google, weil er keine Antwort schuldig bleibt –, organisiert mit leiser Stimme und ruhiger Hand die Aktivitäten an Bord und an Land. Zu den Mahlzeiten im Restaurant, mit Fenstern zu beiden Seiten, finden sich schnell kleine Tischgruppen zusammen, nach Herkunft oder Sprachen besetzt.

Träge fließt der Strom auf seinen letzten 600 Kilometern durch eine braungrüne, auf weite Strecken unspektakuläre Ebene. Es ist ganz sicher ein magischer Fluss. Und es ist ebenso sicher eines der dreckigsten Gewässer der Welt. Noch immer findet man im Internet die Zahl von 100 Millionen Bakterien und Giftstoffe pro Liter Gangeswasser. Die Gläubigen ficht das nicht an, im Gegenteil: Sie wissen genau, dass der heilige Fluss streckenweise eine Kloake ist, aber der göttliche Charakter, so sagen einfache wie gebildete Leute, er sorgt dafür, dass alles gut geht: „Ganga mai ki jai“ – gelobt sei die heilige Mutter Ganges, singen sie und steigen in und um Varanasi bedenkenlos in die Brühe.

Begegnungen mit Heiligen,Tänzern und Fischern

Oft hindert morgens dichter Nebel das Schiff an der Abfahrt, stundenlang. Aber Nebel schärft die Sinne. Da schälen sich plötzlich am Ufer Frauen mit Lasten auf dem Kopf aus dem Grau, und direkt neben der Bordwand holen sich Delfine für Sekunden die notwendige Luft zum Atmen. Auch akustisch wird der Nebel durchdrungen, von geheimnisvollen Geräuschen aus der Stille, von Tempeltrommeln und, je näher wir dem muslimisch geprägten Land der Bengalen kommen, von den Rufen der Muezzine.

Hier, so sagen Gäste, die schon häufiger im Lande waren, hier fühlen sie sich weit weg vom Indien der Reisekataloge, vom Taj Mahal, von den „Rennstrecken“ in Rajasthan, erst recht von dem der Mega-Städte Delhi oder Mumbai. Wer hat denn zuvor schon von Mokameh oder Monghyr gehört, von Sultanganj oder Vikramshila? Begegnungen mit Heiligen, mit Tänzern in Trance, mit Fischern und Bauern. Streifzüge durch Dörfer, in denen nicht zu unterscheiden ist, wer hier wen anstaunt, behutsam, kundig und klug geleitet von Kumar Singh.

Nachmittags auf dem Sonnendeck. Man döst in Korbstühlen vor sich hin, leiht sich von Zeit zu Zeit von Prabir ein Fernglas aus und schaut Störchen, Reihern, Eisvögeln hinterher. Prabir ist der Ranger vom Dienst, er kennt jedes Gefieder, jeden Busch. Auch der Fluss lebt: Männer staken Fähren von einem zum anderen Ufer. Kinder winken, Frauen waschen sich und ihre Wäsche, Ochsenkarren rumpeln Dörfern im Irgendwo entgegen. Es ist ein Spektakel der kleinen Dinge.

Einblicke in die Historie eines Ortes

Abwechslung an Land: Morgens einen Sikh-Tempel besichtigt, die farbenprächtige Zeremonie aus dem Hintergrund beobachtet und danach, freundlich aufgefordert, in einer Volksküche, die für Bedürftige aller Glaubensrichtungen offen ist, Pakoras und andere typische Snacks probiert. Zurück an Bord: frischer Guavensaft, zum Lunch Fisch aus dem Ganges, in Öl gebackene Auberginen, Limonen-Joghurt. Abends eine Einladung zum Barbecue auf der Sandbank, neben der wir ankern: Fleisch aus dem mitgebrachten Tandoori-Holzkohle-Ofen, indischer Wein, Vollmond und ein sternenreicher Himmel.

In Bhagalpur, am nächsten Morgen, warten oberhalb vom Fluss Geländewagen, mit denen die Ausflügler im Schritttempo durch das Städtchen fahren. Zeit für Einblicke in den Alltag und in die Historie eines Ortes im Bundesstaat Bihar, der nicht zu den klassischen Rundreisezielen gehört. Ein Herrenhaus aus den Anfängen der britischen Zeit in Indien ist das Ziel, heute Sitz einer Abteilung der Rabindranath-Tagore Universität in Kalkutta. Augustus Cleveland hieß der Verwalter des Distrikts, der dieses Haus vor über 200 Jahren erbaut hat. In den Geschichtsbüchern der Engländer wie der Inder wird er als erstes Opfer im Kampf um die Unabhängigkeit von den Kolonialherren geführt.

Diskussionen über Politik und heilige Kühe

Kontrastprogramm an Bord: Gestern ein kritisch-aufschlussreicher Vortrag über Politik, Korruption, Kastenwesen, heilige Kühe. Diskussionen, die sich bis in den Abend, bis in die Bar ziehen. Heute ein Kochkurs, bei dem Chefkoch Nantu Geheimnisse von Currys und Gewürzen entschleiert. Es wird gelacht, auch engagiert mitgeschnippelt und mitgeschrieben. Am Nachmittag: Wie binde ich sieben Meter Seide zu einem gut sitzenden Sari? Am Abend tritt eine traditionelle Musikergruppe auf, die sonst durch die Dörfer Nordindiens tingelt, authentisch, anrührend. Sie spielen und singen uralte Balladen, die von Göttern und guten Geistern handeln.

Farewell Dinner im moderaten Maharaja-Stil: ein Dutzend Currys auf dem Buffet, 1001 Schälchen mit Würzsaucen, eingerahmt von Kerzen und Blüten. Noch Stunden danach lebhafte Diskussion im Salon, über Indien, seine Zumutungen, seine Wunder. Schlusspunkt am nächsten Vormittag: die Zugfahrt von Farakka nach Kalkutta, den Kopf und den Fotospeicher voller verwirrend-bunter Bilder, im Gepäck mehr Fragen als es jemals Antworten geben kann.