Ascona. Er gilt als “Kraftort“, weil unter ihm die geologische Grenze zwischen Europa und Afrika verläuft. Der Monte Veritá ist seit jeher Anziehungspunkt.
Sie müssen wissen, hier oben ist alles ein bisschen geistig“, hatte Fremdenführerin Carolina Peter beim Weg auf den Monte Verità gesagt. Vogelgezwitscher, ein weiter Blick über den Lago Maggiore und üppiges Grün der Palmen, Laub- und Nadelbäume erwarten den Besucher auf dem Plateau oberhalb des mondänen Tessiner Urlaubsortes Ascona. Die Stille wird nur für einen kurzen Moment unterbrochen, als mehr als zwei Dutzend in verschiedenen Sprachen miteinander plaudernde Wissenschaftler von einem Tagungsraum im Hotel „Monte Verità“ über die Terrasse ins benachbarte Restaurant strömen.
Andere Gäste sind an diesem Tag rar. Doch auch wenn mehr da wären, sie würden den bärtigen Mann in weißem Hemd und Krawatte wohl kaum stören, der auf einer Lichtung auf der Anhöhe neben den Gebäuden mit Keulen jongliert. „Der wohnt hier“, sagt Lorenzo Sonognini, Direktor der Fondazione Monte Verità. „Und seinen Raben hat er auch immer dabei.“ Der Vogel sitzt in geringer Entfernung zu dem Jongleur angeleint auf einer kleinen Mauer und schaut sich um.
Ein Berg als "Kraftort"
Der Hügel scheint ein guter Platz zu sein, um sich fernab aller Hektik zu konzentrieren und nachzudenken. Er gilt als „Kraftort“, weil er genau auf der Spalte liegt, die Europa geologisch von Afrika trennt. Der Mann mit den Keulen lässt sich auch nicht aus der Ruhe bringen, als Sonognini in die Skulptur aus Stahlstangen steigt, die nur wenige Schritte von ihm entfernt auf der Lichtung steht. Sie soll an den Begründer des modernen Tanzes, Rudolf von Laban, erinnern, der 1913 erstmals zum Monte Verità kam. „Er hat die Tanzwelt revolutioniert“, erläutert Sonognini. „Er hat den Tanz von der Musik getrennt und gesagt, der Tanz ist eine eigene Form der Kunst, nicht ein Anhängsel der Musik.“
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Die Skulptur in Form eines Ikosaeders, eines Körpers mit 20 Flächen, steht für die Dreidimensionalität des Tanzes, wie Laban sie in einer noch heute gültigen Notation festgehalten hat – jede Stange steht für eine mögliche Bewegungsrichtung im Raum. Sonognini deutet mit seinen Armen an, wie das gemeint ist: Er streckt sie vertikal, diagonal und horizontal hin und her. „Laban war ein Theoretiker der Bewegung“, erklärt er.
Laban, seine Schülerin Mary Wigman und die Wegbereiterin des modernen Ausdruckstanzes, die Amerikanerin Isadora Duncan, waren nur einige der prominenten Gäste, die in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts auf dem Berg zu Besuch waren. Getanzt wurde in der Regel nackt, aber auch bei anderen Aktivitäten gingen die Bewohner des Hügels ganz ohne Kleidung zu Werke, denn sie waren Anhänger der sogenannten Lebensreform. Freies Denken, freie Liebe und Nudismus waren wichtige Bestandteile ihrer Ideenwelt.
Viele prominente Besucher
Der belgische Industriellensohn Henri Oedenkoven und die deutsche Pianistin und Feministin Ida Hofmann kamen im Jahr 1900 auf der Suche nach einem Ort mit mildem Klima auf den Berg und gründeten dort die anfangs strikt vegan lebende Kolonie. Später eröffneten sie auch noch eine Sonnen-Kuranstalt und ein Sanatorium. Künstler wie Alexej von Jawlensky und der Dadaist Hans Arp strömten ins nahe gelegene Ascona und ließen sich vom Geist des Ortes inspirieren. 1926 übernahm der Bankier und Kunstsammler Eduard Freiherr von der Heydt den Monte Verità, 1927 wurde das Hotel im Bauhaus-Stil errichtet.
Nach von der Heydts Tod 1964 ging der Monte Verità in den Besitz des Kantons Tessin über. Seit 1989 nutzt die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich den Komplex als Seminarzentrum. „Viele Leute haben den Mythos im Kopf und kommen, um dem nachzuspüren“, sagt Sonognini. „Leider hieß der Berg bei den Einheimischen immer nur ,der Hügel der Spinner’“, ergänzt Fremdenführerin Carolina Peter. „Aber wenn die Lebensreformer nicht gekommen wären, wäre Ascona nicht das, was es heute ist: Dank des Monte Verità hat der Tourismus angefangen.“