Oldenburg. Was dem Rheinländer der Karneval, ist dem Oldenburger seine Kohlfahrt. Wenn es draußen kalt und ungemütlich wird, tauen die Niedersachsen erst richtig auf. Mit Bollerwagen und Hochprozentigem ziehen sie in Grüppchen durch die Felder. Statt Kamelle gibt es am Ende ein deftiges Grünkohlessen.

Wenn es morgens spät hell und abends früh dunkel wird, wird vielerorts eine ruhigere Kugel geschoben. Nicht so im niedersächsischen Oldenburg. Dort taut der Norddeutsche bei Frost erst richtig auf. Er bepackt seinen Bollerwagen mit Boßelkugeln, Kraber und Hochprozentigem und geht auf Kohltour. „Was dem Rheinländer der Karneval, sind für den Oldenburger das Boßeln und die Kohlfahrten“, witzelt Gästeführer Bernd Mundeloh: „Nur gibt es während der Tour keine Kamelle, sondern am Ende ein zünftiges Grünkohlessen.

Das besteht aus dem ballaststoff-, mineralstoff- und vitaminreichen krausen Gemüse, Pinkel- und Kochmettwurst, Kasseler, Bauchspeck, Senf, Brat- und Salzkartoffeln. Rund um Oldenburg im Weser-Ems-Gebiet werden jährlich rund 2000 Tonnen Grünkohl geerntet. Mannshoch kann die „Oldenburger Palme“ werden.

Wer mit dem Auto in der kalten Jahreszeit sonntags in der Gegend unterwegs ist, mag sich wundern, wenn plötzlich Achtungsschilder am Straßenrand auftauchen, die vor boßelnden Menschen auf öffentlichen Straßen warnen. 40.000 Boßler gibt es zwischen Leer, Oldenburg und der Nordseeküste. An diesem trüben Morgen treten zwei Mannschaften mit jeweils sechs Spielern ihre Boßeltour durch die Oldenburger Innenstadt an. Bevor die erste Kugel ins Rollen kommt, hängen sich alle ein Pinnchen um den Hals – ein Schnapsglas an einer Kordel. Denn falls die Finger zu klamm werden, muss hin und wieder von innen „eingeheizt“ werden. Auf Parkwegen zwischen Wallanlagen und klassizistischen Häusern geht es mit dem Bollerwagen quer durch die knapp 160.000 Einwohner zählende Stadt.

Oldenburgs Superlative

„Boßeln ist aus dem Klootschießen hervorgegangen“, erklärt Mundeloh: „Kloot bedeutet Kluten oder Klumpen. Über festgefrorene Weiden wurden einst Lehmklumpen geworfen.“ Eine Hobby-Boßelkugel besteht aus Gummi, hat einen Durchmesser von 10,5 Zentimetern und wiegt rund ein Kilogramm. Ziel des Spiels ist es, die Kugel mit möglichst wenigen Würfen über eine festgelegte Route zu befördern. Gewinner ist die Mannschaft, die die längste Strecke mit den wenigsten Würfen zurücklegt. Auch der Kraber – ein Besenstil mit Fangkorb, um Kugeln aus Blumenbeeten, Gebüsch oder Gewässern herauszufischen – kommt an diesem Morgen mehrmals zum Einsatz. Denn um eine Kurve zu boßeln, stellt sich als nicht so einfach heraus.

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Nebenbei erfahren die Hobbyboßler auch die Superlative der drittgrößten Stadt Niedersachsens. So war die Haarenstraße mit ihren vielen kleinen Einzelhandelsgeschäften und Seitengassen 1967 die erste flächendeckende Fußgängerzone Deutschlands. Großherzog Peter Friedrich Ludwig gründete 1786 die erste Sparkasse der Welt, die heute noch als Landessparkasse zu Oldenburg existiert. Sieben Jahre später rief er das erste Lehrerseminar als Vorläufer der Pädagogischen Hochschule ins Leben. Die mit ihren fünf Türmen für Norddeutschland ungewöhnliche neogotische Hallenkirche St. Lamberti beherbergt in ihrem Innern eine klassizistische Rotunde. Berge oder Hügel muss niemand beim Boßeln in Oldenburg überwinden. Die höchste Stelle der Innenstadt befindet sich gerade mal 7,30 Meter über dem Meeresspiegel.

Stolz waren die Oldenburger auf ihren Grünkohl schon immer. Im Jahr 1956 luden sie den damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss zum „Defftig Ollnborger Gröönkohl-Äten“ ein. Doch er konnte nicht kommen. Also fuhren die Stadtväter nach Bonn und richteten dort das Essen aus.

Der ganze Stolz

Seit 1998 wird in Berlin aufgetischt. Auch hier wird wie bei jeder Kohltour ein Kohlkönig gekürt. Dieser hat normalerweise die nächste Kohlfahrt zu organisieren. Der politische Kohlkönig, derzeit Hüseyin Avni Karslioglu, Botschafter der Türkei, muss im Laufe seiner Amtszeit mindestens einen Besuch in der Grünkohlhauptstadt absolvieren.

Nach so viel Grünzeug bleibt die Frage: Wie kam die Pinkelwurst zu ihrem Namen? Fleischer Helge Ehlers-Monse weiß die Antwort: „Die Wurst ist recht fett. Sie enthält Speck, Bauchfleisch, Hafergrütze, Zwiebeln und Gewürze im Schweinedarm. Das genaue Rezept ist natürlich geheim. Die Würste werden warm geräuchert. Irgendwann fängt das Fett an zu tropfen – zu „pinkeln.“ 4000 Stück produziert Monse während der Saison pro Woche in der Metzgerei. „Man isst die Wurst entweder in Scheiben oder kratzt sie aus dem Darm heraus.“

Konditormeister Christian Klinge stand der Sinn eher nach etwas Süßem. Also holte er den Mixer raus und vermischte Butter, Zucker, Sahne und weiße Schokolade mit dem grünen Kohl, überzog die Masse mit Zartbitter- und Vollmilchschokolade und dekorierte die Grünkohlpraline mit rosa Pfeffer.

Da Oldenburg eine Universitätsstadt ist, können Kohlschwestern und Pinkelbrüder an der Grünkohl-Akademie ein Diplom erlangen, wenn sie über entsprechendes Wissen und Humor verfügen. Nicht nur Grünkohl und Pinkel, auch Bildung geht in der „Kohltourhauptstadt“ durch den Magen.