Schmallenberg. „Die Textile“ in Schmallenberg verknüpft Mitmachen mit Kunst-Avantgarde. Hier gibt es Infos zu den Ausstellungen und mobilen Projekten.
Mitmachaktionen, Bilder zum Anfassen und avantgardistische Positionen zeitgenössischer Kunst: Diese Formate verbinden sich beim
u außergewöhnlichen Begegnungen. Immer im Mittelpunkt stehen textile Materialien oder Techniken. So entsteht ein ganzes Universum an Gedankensprüngen und neuen Einsichten. Bis zum 9. Juni gibt es einen mobilen Webstuhl, Miniröcke aus dem 3-D-Drucker, Strickfahnen aus Fake-News, avantgardistische Kleiderskulpturen und wundersame Objekte aus Nylonstrumpfhosen.
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Wie ein schwarzes Geisternetz hängt die Arbeit „Geflechte und Gefüge“ von Gertrud Riethmüller an der Wand im Museum Holthausen. An den Rändern löst sich das Kunstwerk bereits auf, die schwarzen Fäden kringeln sich zum Boden und verbinden sich dort wie Nabelschnüre mit Lautsprechern. Das monumentale Wandbild ist geklöppelt, eine uralte Handarbeitstechnik, die mit besonders prekären Arbeitsbedingungen verbunden war. Die Künstlerin hat Heimarbeiterinnen und -arbeiter interviewt, deren Stimmen klingen aus den Lautsprechern. „Das Thema der Arbeit ist Identität. Wenn es gesellschaftliche Umbrüche gibt, steht die individuelle Identität in Frage, deshalb zerfällt das Kunstwerk, das Verbundene löst sich auf“, erläutert Christine Bargstedt, die zusammen mit der Schmallenberger Kulturamtsleiterin Saskia Holsträter das Festival leitet.
Textile Aspekte sind ein interessantes Medium, um vertraute Perspektiven zu hinterfragen und mehrere Aussageebenen in einem Kunstwerk zu integrieren. Vera Drebusch und Florian Egermann aus Köln übersetzen Twitter-Daten in maschinell gefertigte Strickbilder; „computational knitting“ nennen sie diesen Prozess. „Der ambivalente Umgang mit Informationsströmen prägt unseren Alltag. Desinformationen und Verschwörungsmythen verstricken - katalysiert durch die sozialen Medien - Familien und Freundeskreise in teils kontroverse Diskussionen“, so beschreibt das Künstlerduo sein faszinierendes Projekt. Im Ergebnis werden Information und Fehlinformation untrennbar zu emotionalen Landschaften miteinander verwoben.
Die Hagener Kostümbildnerin und Künstlerin Silja Meise setzt die Technik des Nadelbindens ein, um Kleiderskulpturen aus Alltagsmaterialien wie T-Shirts oder alten Jeans oder Strumpfhosen zu erschaffen, die einerseits an die Prachtroben der Haute Couture erinnern, andererseits aber die Objektifizierung des Frauenkörpers durch die Mode sichtbar machen. Ein einfaches Bettlaken wird gefältelt zur Staatsrobe, ein korsettartiges Gestänge aus Metall deutet an, welche Körperqualen Frauen erdulden sollten, um dem jeweiligen Schönheitsideal zu entsprechen.
Im Kunsthaus Alte Mühle finden die Strumpfhosen-Gebilde der venezolanischen Künstlerin Clemencia Labin ihren Platz. Die fröhlichen farbigen Wülste visualisieren Früchte wie Buddhas Hand, Oktopus-Arme und weitere geheimnisvollen Gebilde. Clemencia Labin arbeitet ausschließlich mit Falke-Strumpfhosen, wusste aber nicht, dass die Firma in Schmallenberg angesiedelt ist, ebenso, wie umgekehrt Falke nichts von der international ausgestellten Strumpf-Kunst wusste. „Sie ist die erfolgreichste Künstlerin, die wir je zu Besuch hatten und auch die unkomplizierteste“, schwärmt Saskia Holsträter.
Die Schau im Kunsthaus trägt den Titel „Darf ich anfassen?“. Berührung ist in den meisten Ausstellungen strikt verboten. Und auch im Kunsthaus darf tatsächlich nur im Dachgeschoss angefasst werden. Dann aber können die Betrachter den Strumpfhosen-Objekten eine neue Form geben oder kuratorisch aktiv werden und die Textil-Bilder von Ina Rickers umhängen. Dabei erleben sie eine Überraschung. Denn die Materialität, die so weich und flauschig aussieht, ist tatsächlich hart und kratzig.
Das Lenneatelier neben dem Kunsthaus verbindet als großer Vermittlungsraum konzeptionell die Ausstellungs- und Mitmachformate. Nach dem Tipi-Projekt und der Strickliesel der vergangenen Festivals fährt nun zudem ein Webmobil über die Dörfer. Über 600 Frauen und Männer haben sich bereits daran gesetzt, der gewebte Flickenteppich ist bereits 35 Meter lang. „Das Webmobil ist ein niederschwelliges Kunstprojekt. Die Mitmachaktionen werden immer gut angenommen“, bilanziert Saskia Holsträter. So ist in Schmallenberg kein Thema, was bei anderen Kunstfestivals zum Problem wird: dass die Ausstellungen nur ein Publikum aus der Szene finden. 400 Kinder und Jugendliche bereichern die Textile darüber hinaus mit eigenen Kunstwerken, die in 39 Schaufenstern gezeigt werden.
Mit dem Webmobil vernetzt sich die Textile auch mit anderen Städten in Südwestfalen, Knotenpunkte gibt es unter anderem in Brilon, Winterberg und Lennestadt. Am 8. und 9. Juni feiert das Festival sein großes Finale mit einem zweitägigen Mitmachfest. Die Textile kommt übrigens auch nach Hause, sogar zu Blind Dates. Wer Gastgeber sein möchte: m.vollmers@kam.jks.de
Ausstellung: Digitalität – Textil – Technik: Museum Holthausen in Schmallenberg Holthausen
Ausstellung: Darf ich anfassen? Kunsthaus Alte Mühle Schmallenberg