Hagen. Nach der Festnahme von vier Jugendlichen wegen Terrorverdachts: Islamwissenschaftler über die Rolle von Familien und das Anschlagsrisiko.
Vier Jugendliche aus Iserlohn, Lippstadt, Düsseldorf und Baden-Württemberg sollen einen islamistisch motivierten Terroranschlag geplant haben. Nach der Festnahme der Gruppe gesellt sich zu der Fassungslosigkeit über den Tatvorwurf die Frage, warum sich Heranwachsende radikalisieren. Der Islamwissenschaftler Kaan Mustafa Orhon ist in Bonn für die Beratungsstelle Leben des Vereins „Grüner Vogel“ tätig und berät unter anderem Familienangehörige sich radikalisierender Menschen. Er ist Mitglied des Radicalisation Awareness Networks (RAN) der EU-Kommission.
Die vier jugendlichen Beschuldigten, die seit dem Osterwochenende in Untersuchungshaft sitzen, sollen sich in einer Chat-Gruppe ausgetauscht haben. Welche Rolle spielt das Internet bei der Radikalisierung?
Eine große Rolle, was den Kontakt zu Gleichgesinnten und den Zugang zu Propagandamaterial angeht. Der Erstkontakt allerdings geschieht nach unseren Erfahrungen überwiegend offline. Durch soziale Kontakte mit Menschen, die bereits in der islamistischen Szene aktiv sind. Anschließend geht es aber darum, die Angesprochenen über einfache Botschaften in Inhaltsmedien wie TikTok und Youtube für die Sache zu sensibilisieren. Erst danach kommen Chatgruppen aller Art ins Spiel, wo sich die Mitglieder im allgemeinen Gruppendruck und in dem Bestreben, den eigenen Status im Netzwerk aufzuwerten, gegenseitig hochschaukeln. Hier gilt für IS-Sympathisanten: Je schärfer die Vorgaben der Betreiber des Netzwerks für Diskussionen, umso weniger nutzt man es. Und, so die Auffassung: Beim Messengerdienst Telegram könne man ungestörter kommunizieren als in anderen Netzwerken.
Welche Jugendlichen sind empfänglich für radikal-islamistische Ansichten?
Ich spreche immer von Jugendlichen, die unerfüllte Bedürfnisse haben - die Anschluss an eine starke Gruppe und Bindung suchen, weil der Bezug zum Elternhaus und Freundeskreis nur wenig entwickelt ist. Es können aber auch junge Leute sein, die negative Erfahrungen mit Ausgrenzung, Gewalt oder Rassismus gemacht haben und diese nicht kompensieren konnten. Da kommt vermeintlich ein IS-Prediger gerade recht, der in der Phase der Sinnsuche eines jungen Menschen die Rolle eines Vaters, eines großen Bruders oder einer Autoritätsperson übernimmt.
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Aber wie schafft man es, Jugendlichen zu vermitteln, dass man so weit gehen muss, einen Anschlag zu planen und auszuführen?
Indem man ihnen anhand aktueller Beispiele – derzeit der Gaza-Krieg und früher die Auseinandersetzungen in Syrien oder im Irak – einredet, dass man den überall auf der Welt verfolgten Muslimen helfen muss; dass man, wenn man nach dem Ende des Kalifats schon nicht mehr in den bewaffneten Kampf ausreisen kann, dann wenigstens aber als Ersatzhandlung Anschläge in einer ungläubigen Gesellschaft verüben sollte.
Von den drei Jugendlichen, die sich im vorliegenden Fall in Untersuchungshaft befinden, sind zwei weiblichen Geschlechts. Ein neues Phänomen?
In den Anfängen des salafistischen Terrorismus radikalisierten sich deutlich mehr Männer/Jungen als Frauen/Mädchen. Seit Jahren findet eine Verschiebung statt: Der Anteil weiblicher Sympathisanten nimmt extrem zu.
Einer der festgenommenen Jugendlichen ist offenbar ein deutscher Schüler ohne Migrationshintergrund. Bei Festnahmen rund um den radikalen Islamismus wird von bestimmter Öffentlichkeit gerne auf einen Migrationshintergrund verwiesen. Wie verhält sich das aus Ihrer Sicht?
Das ist AfD-Sprech und blanker Unsinn. Die Radikalisierung erfolgt unter Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind. Viele von ihnen haben überhaupt keinen Migrationshintergrund. Es ist übrigens schon lange zu beobachten, dass nicht nur unter dem sogenannten Fußvolk viele Herkunftsdeutsche sind, sondern auch unter den Treibern der Szene. Die „Angebote“ der islamistischen Szene gelten für alle gesellschaftlichen und soziokulturellen Gruppen.
Nach gescheiterten oder vollzogenen Anschlagsplänen von Jugendlichen wird häufig bekannt, dass das engste Umfeld völlig ahnungslos war. Wie kann das sein?
Zunächst einmal führt die übermäßige Nutzung von sozialen Medien dazu, dass Angehörige nicht mehr mitbekommen, in welchen Kanälen sich Jugendliche tummeln. Zum anderen werden sie dazu aufgefordert, sich nach außen unverändert zu geben. Niemand, auch Eltern und Lehrer nicht, soll misstrauisch werden.
Hat sich das Tempo der Radikalisierung im Laufe der Zeit gewandelt?
Wir registrieren immer häufiger eine Turbo-Radikalisierung in Monaten und in Extremfällen auch in Wochen. Das hat mit der psychischen Situation der betroffenen Jugendlichen zu tun. Sie sind derart mit ihrem Leben und der vermeintlichen Ungerechtigkeit in der Welt unzufrieden, dass sie möglichst schnell diesen Druck herauslassen wollen.
Kann es sein, dass Jugendliche ohne Hilfe von Erwachsenen Terroranschläge planen und durchführen?
Nein. Sie erhalten fast immer externen Input aus anderen Altersschichten. Es gibt stets Stichwortgeber.
Steigt das Risiko, dass Jugendliche Terroranschläge planen?
Die Zahl von Jugendlichen, die in solchen Kontexten auffällig werden, steigt. Die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) sucht auch diese Klientel, weil die Sicherheitsbehörden sie weniger auf dem Schirm hat. Ohne zynisch zu klingen: Während IS-Anschläge in der Anfangszeit wie detailliert geplante militärische Operationen abgelaufen sind, sind die heutigen Anschlagspläne von Jugendlichen – im aktuellen Fall sollten Messer und Molotowcocktails eingesetzt werden - ein Zeichen der Schwäche und der Verzweiflung der Organisation und der Netzwerke.