Datteln. Im Obeldicks-Programm lernen Kinder und Jugendliche Gewohnheiten zu ändern, die sie „breit“ gemacht haben. Dabei geht’s nicht nur um Ernährung.

Die meisten trudeln ein, da hat ihr Kurs noch gar nicht begonnen, eine Viertelstunde zu früh. Zwei Jungs holen sich Roller aus dem Geräteraum und rasen damit durch die große Sporthalle der Vestischen Kinder- und Jugendklinik in Datteln, vier Mädchen schnappen sich Fußbälle und üben Torschüsse, eine gemischte Truppe hüpft lachend auf großen Bällen kreuz und quer. „In der ersten Stunde“, sagt Riccarda Dröwke, „wäre das undenkbar gewesen.“

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Die Bewegungstherapeutin leitet zusammen mit dem Erzieher und Motopäden Dennis Dördelmann den „Juniorkurs“ für übergewichtige Kinder zwischen acht und elf Jahren, die im Rahmen des Dattelner „Obeldicks“-Programms „Abnehmen ohne Stress“ betreut werden. Sport ist neben Ernährungs- und Verhaltenstherapie einer der drei Bausteine. „Und er soll vor allem s Spaß machen“, sagt Dördelmann – für viele Teilnehmer eine ganz neue Erfahrung. „Viele unserer Kinder boxen, tanzen oder spielen Fußball im Verein. Aber viele erleben im klassischen Schulsport auch Stigmatisierung und Mobbing, sie werden nie ins Team gewählt“, erklärt Dröwke. „Hier bewegen sie sich unter Gleichen.“

Sie freue sich immer schon am Mittwochmorgen auf die anderthalb Stunden Sport am Abend, erzählt Josephine, 9, aus Marl, die seit fast einem Jahr im Programm ist. Drei neue Freundinnen habe sie bei Obeldicks schon gefunden, „und gelernt, dass ich früher oft nur aus Langeweile gegessen habe.“ Heute ruft die Drittklässlerin einfach jemanden an, wenn ihr „öde“ ist, oder dreht eine kleine Runde um den Block.

Aus allen Ecken kommen jetzt, da es offiziell losgeht, Vorschläge fürs Aufwärmspiel. „Krake go“ gewinnt die Abstimmung, ein witziges Fang-Spiel. Von „Fischer, Fischer, wie tief ist das Wasser?“ bis zum „Zahlen-Fußball“ folgen ein halbes Dutzend weitere. Am Ende sitzen nicht wenige mit rotem Kopf und nass geschwitzten T-Shirts in der Schlussrunde – aber alle mit strahlenden Augen.

„Corona hat mich breit gemacht. Und ich will so nicht sein“, sagt Mekka, 12. Deswegen kommt sie heute zum Sport, obwohl sie seit fünf Uhr nicht gegessen hat, auch hier nichts trinken mag – Ramadan.

„Ab dem vierten Geburtstag werden die überflüssigen Kilos relevant, zwischen vier und elf muss man handeln“, sagt Viola Singer, eine der beiden Programm-Leiterinnen. Obeldicks wurde 1998 an der Dattelner Klinik erfunden und längst in andere Bundesländer exportiert. „Aber es gibt viel zu wenige solche ambulanten Angebote für übergewichtige Kinder“, findet die Psychologin und Psychotherapeutin. Sie spricht von einer „krassen Unterversorgung“.

„Oma hat mich immer mit Süßigkeiten vollgestopft“, erinnert sich Emely, 10. Bei Obeldicks hat sie gelernt, nichts ist verboten, aber manches nur in Maßen gut. „Und kleine Portionen sehen auf kleinen Tellern auch aus wie große.“ Das hat sie der Oma erklärt und die habe verstanden. Acht Kilo hat die Realschülerin schon verloren, „ich merke, der Bauch ist weg, ich kann mich viel besser als früher bewegen.“ Darauf ist sie stolz: Ich hab’s durchgezogen, ich kann meine Träume erreichen“, sagt das Mädchen. „Im Sommer werde ich Bikini tragen.“

Viele der Kinder im Obeldicks-Programm müssen die Freude an der Bewegung ganz neu lernen. In der Bewegungstherapie haben sie auf jeden Fall Spaß.
Viele der Kinder im Obeldicks-Programm müssen die Freude an der Bewegung ganz neu lernen. In der Bewegungstherapie haben sie auf jeden Fall Spaß. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann Funke Foto Services

Pro Jahr werden in Datteln etwa 50 Kinder und Jugendliche geschult, „eine bunt gemischte Truppe aus allen sozialen Schichten“, sagt Singer. Manche kommen mit nur ein paar Kilo zu viel auf den Hüften in die Adipositas-Sprechstunde, andere wiegen schon im Grundschulter 100 Kilo, der ein oder andere Teenager bringt auch mal mehr als 150 auf die Waage. Manche kommen mit besorgten Eltern (dicken wie dünnen), die reagieren wollen, bevor es zu spät ist; andere schickt der Kinderarzt. Einige Jugendliche landen in Datteln auch aus eigenem Antrieb – vor allem die, die über eine Magenverkleinerungs-OP nachdenken. Tendenziell, sagt Singer, sollten Eltern, die beobachten, dass sich das Gewicht ihres Kindes immer weiter von der „Normalkurve“ entfernt, eher früher als später kommen, „je früher, desto besser“ eigentlich. Viele aber warteten zu lange; hofften, „das wächst sich schon aus“; dächten, „mein Kind ist okay, so wie es ist“. Anderen fiel gar nicht auf, dass ihr Kind zu viel wiege – immer mehr Menschen wiegen schließlich zu viel.

Vor dem ersten Lockdown sei sie ständig unterwegs gewesen, mit den Freundinnen, auf dem Rad, auf Inlinern, berichtet Ada, 10. „Dann haben wir uns nicht mehr treffen dürfen und ich bin selbst trotzdem an Corona erkrankt. Am Ende habe ich nur noch auf dem Sofa gesessen und gegessen.“ Ganz verzichtet sie auch jetzt nicht auf Snacks. Aber Chips, das weiß sie inzwischen, gehören zur roten „Ampelgruppe“, zu den Lebensmitteln, die man tunlichst nicht in großen Mengen vertilgen sollte. „Heute mach‘ ich mir eine kleine Portion in eine Schüssel, und das reicht dann für den ganzen Tag.“ „Fünf Kilo sind schon weg“, erzählt die Schülerin stolz. „Man sieht nicht, aber ich spüre es. Und nach dem Wechsel von der Grund- an die Realschule im letzten Herbst, mobbt mich auch niemand mehr.“

Nicht alle die klein und „vielleicht etwas pummelig“ sind wie Obelix, der Namensgeber des Programm, leiden unter ihrem Übergewicht, aber eine „Selbstwertproblematik“ haben laut Singer die meisten Kinder. „Sie mögen ihr Aussehen nicht, wollen andere Klamotten tragen, können sich nicht so gut bewegen, wie sie es wollten, werden gehänselt.“ Kinder, die zu viel wiegen, haben zudem ein höheres Risiko für Diabetes, Herzinfarkt und Schlaganfall, sie können Schmerzen in Knochen und Gelenken bekommen, ihre Lebenserwartung sinkt. „Studien zu den sozialen Langzeitfolgen von Übergewicht zeigen zudem“, ergänzt Singer, „dass Adipöse sich bei der Jobsuche schwerer tun als Normalgewichtige.“

Jolina, 11, macht seit April 2021 „Obeldicks“ und verzichtet längst auf den früher obligatorischen Nachschlag. Ihr Leibgericht – Fischstäbchen mit Kartoffelpüree und Spinat – koche die Mama noch immer, berichtet das Mädchen, das die sechste Klasse einer Realschule besucht. Aber die Fischstäbchen kämen jetzt in den Backofen statt mit viel Fett in die Pfanne. „Dann rutschen die von rot auf gelb in der Ampel!“

Das Zahlen-Fußball-Match endet mit einem „grandiosen Unentschieden“. Im Hintergrund: Bewegungsherapeutin Riccarda Dröwke.
Das Zahlen-Fußball-Match endet mit einem „grandiosen Unentschieden“. Im Hintergrund: Bewegungsherapeutin Riccarda Dröwke. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann Funke Foto Services

Ein Jahr lang treffen sich die Obeldicks-Teilnehmer einmal in der Woche für 90 Minuten zur Bewegungs-Runde. Dazu kommen sieben Einheiten Ernährungsschulung und Essverhaltenstraining, Einzelgespräche und psychologische Beratung, auch die Eltern werden im Übrigen geschult. Die meisten Kassen übernehmen nach Prüfung des Einzelfalls die Kosten, „aber wir erleben gerade, dass sie zögerlicher werden“, sagt Singer.

Tamina, 9, schwärmt vom Kochkurs, in dem sie Nudelauflauf mit Gemüse gemacht haben oder „Powersandwiches“ mit selbstgebackenem Brot, Tomatenmark und Käse. Für den Urlaub in Bulgarien im Sommer war sie schon shoppen, „ein bauchfreies Oberteil!“

„Abnehmen ohne Stress“ haben sie das Programm überschrieben. Aber vorrangig geht es bei Obeldicks nicht einmal ums Abnehmen. Sie füttern Kinder hier lieber – mit Informationen und Motivation. „Wir gucken, wo können wir ansetzen, welche Schraube drehen. Das kann Bewegung sein, Ernährung oder Verhalten.“ 79 Prozent der Teilnehmer erreichten dennoch „eine messbare Übergewichts-Reduktion, in unterschiedlichem Ausmaß“, sagt Singer. Aber auch ein Kind, dass kein einziges Kilo verloren hat, könne durch Obeldicks gewinnen. „Erfolg spiegelt sich nicht nur auf der Waage!“ Ein Elfjähriger, der durch Obeldicks wieder Lust an Bewegung bekommen und den passenden Sport für sich gefunden hat, habe an Lebensqualität gewonnen. Genau wie der, dessen Blutwerte besser geworden sind oder der, der jetzt öfter mal Obst statt Schokoriegel nascht. Singer erinnert sich an Kinder, die die in viel zu weiten Pullovern kamen und schüchtern erzählten, sie schämten sich ihres Körpers so sehr, dass sie nie schwimmen gehen würden, obwohl sie es das Wasser so liebten. „Und im Sommer nach Obeldicks fand man sie nur noch im Freibad, zusammen mit ihren Kumpels…“

>>> INFO: Was BMi und Perzentilenkurve bedeuten?

Erwachsene gelten ab einem Body-Mass-Index (BMI) von 25 als übergewichtig, ab 30 als adipös. Und schon das ist nur eine Faustregel. Bei Kindern und Jugendlichen ist es noch schwerer zu entscheiden, wer zu viel wiegt. Denn während des Heranwachsens ändert sich das Verhältnis von Größe zu Gewicht ständig. Die Arbeitsgemeinschaft „Adipositas im Kindes- und Jugendalter“ (AGA) empfiehlt sogenannte „Perzentilenkurven“ zur Definition von Übergewicht. Dafür wurden bundesweit gut 35.000 Mädchen und Jungen zwischen 0 und 18 Jahren exakt vermessen und gewogen und auf dieser Daten-Grundlage alters- und geschlechtsspezifische Kurven erstellt. Als Hinweis auf Übergewicht gilt, wenn die alters- und geschlechtsspezifische 90-Prozent-Marke überschritten wird. Von Adipositas, schwerem Übergewicht, spricht man, wenn der Wert oberhalb von 97 Prozent liegt.