Dortmund. . Jahrelang hat Renate Neubert ihre in einem Dortmunder Altenheim lebende Mutter liebevoll betreut. Dann wurde sie selbst krank. Jetzt lebt sie im selben Heim wie die Mutter. Und diese pflegt nun sie. Dabei ist die Seniorin bereits 103 Jahre alt.
Das Personal kennt Renate Neubert noch als die treu sorgende Tochter: Regelmäßig kommt die Lehrerin und Schulleiterin aus Bochum herüber gefahren, besucht ihre Mutter im Pflegeheim in Dortmund und erledigt den üblichen Kram. Doch dann beginnen diese Aussetzer: Renate Neubert macht die Post wochenlang nicht auf, lässt Rechnungen liegen, steht eine Viertelstunde verloren auf dem Flur und geht dann plötzlich weiter – und weiß nichts von der Viertelstunde.
Sie wäscht, trocknet und bügelt für ihr Kind
Fünf, sechs Jahre ist das her, Renate Neubert ist heute 68, stark dement und lebt in demselben Pflegeheim wie die Mutter. Die beiden haben den Rollentausch der Generationen wieder rückgängig gemacht: Theodora Neubert wäscht, trocknet und bügelt für ihr Kind und umsorgt es. Sie ist ja auch erst 103.
„Da kommt mein Kind!“, sagt Theodora Neubert. Sie sitzt in ihrem kleinen Appartement im 7. Stock des Hermann-Keiner-Hauses in der Nähe des Dortmunder Zoos. Eine Schwester schiebt die Tochter im Rollstuhl in den Raum. Sie kann nicht mehr reden, wird künstlich ernährt in ihrer Wohnung im 9. Stock. Aber jetzt werden Mutter und Tochter Musik hören, Bach, Brahms, Liszt – wie jeden Morgen: „Das liebt sie“, sagt die Mutter.
Sie ist klein und gebeugt, sieht inzwischen schlecht („Die Augen sind müde, das ist etwas Scheußliches“), ist aber glasklar im Kopf. Geboren 1911 im Sudetenland, im Kaiserreich Österreich-Ungarn, „ich war Österreicherin“. Ihr Vater fällt schon im Herbst ‘14 in Montenegro. In ihrer Ehe hat Theodora Neubert zunächst vier Kinder, die alle ein Bombenangriff 1944 auf Brüx (heute: Most in Tschechien) tötet. „Es war ja so nach dem Tod der Kinder, da kam noch dieses Kind, das hat mich so gefreut“, sagt sie. Ein Bruder kommt später auch noch mal, er lebt heute in Bayern.
Natürlich, Renate Neuberts Pflege im engeren Sinne leistet die Caritas-Station im Haus. Doch Theodora spricht mit Renate, die nicht mehr reagiert, zumindest nicht für Fremde erkennbar; sie umarmt sie und streichelt sie. „Sie hat auch ein Physik-Diplom gemacht, das gute Kind.“ Nachher, am Nachmittag, wird sie hoch gehen in den 9. Stock wie jeden Nachmittag zur Tochter: „Sie freut sich immer, wenn ich komme. Sie kann den Fernseher an haben, aber wenn ich reinkomme, kommt gleich der Kopf rum zu mir.“
Mit ihrem Mann, der Bergbau studiert hat, landete Theodora Neubert 1950 im Ruhrgebiet, lebt zunächst in Recklinghausen und dann in Essen, arbeitet als Kinder- und Säuglingskrankenschwester. Schon 1986, längst Witwe, zieht sie in das anthroposophische Keiner-Haus – um es in den ersten fünfeinhalb Jahren jeden Morgen zu verlassen und drei fremde Kinder zu betreuen. Anfangs mit 75, zuletzt mit 81 Jahren. „Die kommen noch jedes Jahr zu meinem Geburtstag, eine aus Eutin, eine aus Hamburg und der Junge von hier.“
Die Liebe zur Tochter hält die 103-Jährige aufrecht
Renate Neubert braucht ihre Mutter, keine Frage, aber die Mutter braucht ebenso die Tochter: Das hat sie selbst am besten durchdrungen. „Das ist die Liebe zum Kind, ich glaube manchmal, dass mich das aufrecht hält“, sagt die 103-Jährige: „Es ist mir nur wichtig, dass ich durchhalte, solange das Kind mich braucht.“ Jetzt ziehen Schwestern der Tochter einen Mantel an, setzen sie wieder in den Rollstuhl, werden sie gleich draußen etwas durch die Sonne schieben. „Der Hut gehört anders“, sagt Theodora Neubert.
Nachmittags wird sie oben bleiben im 9. Stock bei der Tochter, wird sich abends auf die Bettkante setzen, wird Renate etwas erzählen oder, solange das noch geht, etwas vorlesen. Wenn das Kind eingeschlafen ist, steht die Mutter auf, löscht das Licht und geht in ihre Wohnung.