Hemer/Ruhrgebiet. . Weil die Zahl der Asylbewerber steigt, kommen die „Unterbringungs-Einrichtungen“ in Nordrhein-Westfalen an ihre Belastungsgrenzen. In Hemer trifft sich die ganze Welt auf der Suche nach einem besseren Leben. Doch hier sind sie nur auf der Durchreise.
An diesem Morgen sind sie schon wieder 80 „Neue“, sie stehen jetzt Schlange an der „Rezeption“, vierte Baracke rechts: die alte Frau mit Kopftuch und Stricksocken, die junge Schwarze in den ausgetretenen Schuhen, der Mann mit der Mütze, die nackten Füße in Badelatschen. Jeder kriegt hier eine Tüte: Zahnpasta, Geschirr, Bettzeug – so beginnt für Asylbewerber ihr Leben in Deutschland. Doch hier werden sie nicht lange bleiben.
Die Zentrale Unterbringungseinrichtung (ZUE) Hemer, eine ausgediente britische Kaserne außerhalb des Ortes, platzt aus allen Nähten, seit wieder immer mehr Flüchtlinge nach NRW kommen: Über 25 000 waren es im vergangenen Jahr, die Zahl soll weiter wachsen. Das sind so viele wie seit 20 Jahren nicht mehr. Die Menschen fliehen aus den Krisenländern in der Welt, aber zunehmend auch vor Armut in Russland, Marokko oder auf dem Balkan.
Sie bleiben nur noch zwei Wochen
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Die ZUE sind die Orte, an die alle Ankömmlinge verteilt werden – ein Vierteljahr sollen sie hier wohnen, betreut werden auch, während ihr Asylverfahren läuft. Die Realität zum Jahresbeginn 2014 ist: „Um Obdachlosigkeit zu vermeiden“, sagt der zuständige Dezernent bei der Bezirksregierung in Arnsberg, Michael Kirchner, müsse das Land „Notunterkünfte nutzen“. Hemer, eine von nur noch zwei dauerhaften Einrichtungen im Land, kann 500 Menschen aufnehmen, tatsächlich sind es meist mehr. Die wegen des Andrangs kaum noch länger als zwei Wochen bleiben.
Mit Reisebussen kommen sie ins Sauerland, „manche haben halb Europa hinter sich“, weiß Einrichtungsleiter Horst Labrenz. Sonst weiß er nicht mehr viel über die Einzelschicksale, zu kurz sind die Flüchtlinge da, die von hier aus in Heime in ganz NRW weitergeleitet werden. Zeitweilig hat Hemer eine Psychologin beschäftigt für Kriegs-Traumatisierte, „aber das geht gar nicht mehr“. Labrenz hat mal Sozialpädagogik studiert, nach 21 Jahren vor Ort ist er „etwas desillusioniert, das bleibt nicht aus“.
„Viele können ja nicht lesen“
Dabei versucht er, gemeinsam mit dem Malteser Hilfsdienst, den Flüchtlingen so etwas wie ein guter Herbergsvater zu sein. Einen Frauentreff haben sie eingerichtet (für Männer verboten!), sie machen Sport mit den Jugendlichen, laden zu Tanzabenden, und in einer Art Schule lehren sie deutsche Sitten: dass man für den Bus ein Ticket ziehen muss, im Supermarkt an der Kasse bezahlen, und, ja, dass man sich auf eine Klobrille nicht stellt.
Die braunen Türen haben sie lustig angemalt, damit die Leute ihr Haus wiederfinden, „viele können ja nicht lesen“. In der Sanitätsstelle kümmern sie sich um Aids, Malaria und nervöse Erkrankungen, und sie betreuen Schwangere, über 100 im Jahr. Anuschik, Muhameti, Allawie sind in Hemer geboren.
In der Kinderstube spielen bis zu 120 Kinder mit Händen und Füßen miteinander, aber „nicht wie ein normales Kind“, brutaler, wie ein Betreuer sagt. „Man merkt, was manche miterlebt haben.“ Kürzlich bekam ein Junge Fieber, nachdem jemand eine Tür zugeknallt hatte: „Er hatte Angst, weil er dachte, das war eine Bombe.“ An der Stubentür hängen Mäuse, in Lila, Orange und Türkis, so bunt wie die Welt: „Wir haben ja“, sagt Horst Labrenz, „einen Querschnitt der Weltbevölkerung hier.“
Bildungsgefälle zwischen den Flüchtlingen riesig
Was problematisch ist: Da stehen Schiiten gemeinsam mit Sunniten um das wöchentliche Taschengeld von 31 Euro an. Da warten Serben links neben der Anmeldung, Kosovo-Albaner rechts. Das sei oft „Rassismus in Reinform“, bedauert Horst Labrenz. Auch das Bildungsgefälle ist riesig: Aus Syrien kommen Anwälte und Ärzte, dagegen Analphabeten aus Eritrea. Für manche, die viel Geld aufbringen konnten, um Schlepper zu bezahlen, ist die alte Kaserne eine Zumutung. Für die Armen aus dem Osten „eine höhere Form des Daseins“, wie Labrenz sagt. Die „wirklich eine Flucht hinter sich haben“, seien durchaus dankbar.
Die anderen machen mehr Probleme. Das sind die, die an der Rezeption drängeln und bei der Essenausgabe, so dass die jetzt ein Sicherheitsdienst überwacht. Junge, alleinreisende Männer aus Nordafrika, aufgewachsen auf der Straße, oft „mit einseitigen Geschäftsbeziehungen zum Einzelhandel“, wie Labrenz sagt, ein Freund des offenen Worts. Der Polizeibericht eines beliebigen Wochenendes listet auf: Drogen im Zimmer, Angriff auf einen Wachmann, Ausrasten eines betrunkenen Bewohners. Beleidigung, Körperverletzung, Streit, Geschrei. Die Lage an der ZUE bleibe „deutlich unruhig“. „Zu behaupten, alle sind Betrüger“, hat Labrenz gesagt, „ist genauso falsch wie das Gegenteil: Alle sind gut.“
Jedenfalls versucht er, die Bewohner zu trennen, Frauen und Männer, Familien und Alleinreisende, Ethnien und Religionen. Jeden Tag aufs Neue, wenn die Busse kommen. Woher? Derzeit schaut Horst Labrenz besorgt in die Ukraine. „Man sieht die Weltnachrichten inzwischen anders.“