An Rhein und Ruhr. Sexueller Missbrauch von Kinder und Jugendlichen ist in NRW alltäglich. Durchschnittlich 2 665 Fälle wurden seit 2008 jedes Jahr angezeigt. Studien gehen von weitaus mehr Opfern aus. Es gibt Strukturen und Abläufe, die sich bei vielen Fälle wiederholen. Ein aus realen Vergehen konstruierter Fall
Lotta steht mit ihren Freundinnen auf dem Schulhof, als ihr Handy piept: eine SMS. Lotta zieht das Telefon aus ihrer Tasche und liest die Nachricht. Sie lächelt, aber schreibt nicht zurück. Die neugierigen Fragen ihrer Freundinnen wehrt sie ab. Nein, es ist nicht der hübsche Junge aus der 10b. Schnell schiebt Lotta ihr Handy zurück in die Tasche. Lotta ist 13 Jahre alt, als Herr Arnold ihr diese erste SMS schreibt.
Ein Jahr später beschlagnahmt die Polizei Lottas Handy und ihren Computer. Die Beamten werten unzählige SMS und E-Mails aus und finden Fotos, die Geschlechtsteile zeigen; auf manchen posiert Herr Arnold, auf einem ist er nackt.
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Herr Arnold ist Lottas Lehrer. Ein lockerer Typ, den die Schüler mögen. Er unterrichtet Englisch und Sport. An jenem Tag, als er ihr mittags die erste SMS schreibt, hat die Klasse nachmittags Turnen bei Herrn Arnold. Danach, am frühen Abend, schickt er ihr noch eine SMS. Dieses Mal antwortet Lotta.
Die Dunkelziffer bei sexuellem Missbrauch ist wahrscheinlich extrem hoch
Ein Jahr später steht für die Polizei fest, dass sich der Lehrer Arnold, Alter Mitte 30, seit vielen Monaten an seiner 13-jährigen Schülerin vergreift. Er hat mit ihr geschlafen. Sie hat ihn oral befriedigt; einmal sogar in der Schule.
Sexueller Missbrauch ist alltäglich. Das zeigen die Polizeiliche Kriminalstatistik und Daten des Landeskriminalamtes, die dieser Zeitung vorliegen: 2 665 Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern wurden seit 2008 im Durchschnitt jedes Jahr in NRW angezeigt.
Die tatsächliche Zahl wird um ein Vielfaches höher sein. Eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen zeigt, dass nur jeder fünfte Übergriff angezeigt wird. Hochgerechnet würde dies für NRW jährlich mehr als 13 300 Missbrauchsfälle bedeuten. Es gibt Wissenschaftler, die noch krassere Zahlen nennen.
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Werner Tschan, ein Schweizer Psychiater, der sich mit Missbrauch in Schulen, Heimen oder Vereinen beschäftigt, sagt: „Die Dunkelziffer ist enorm hoch. Und es gibt Beratungsstellen, die raten Opfern ab, ihren Fall zu melden, die sagen: Der Druck ist viel zu groß.“ So verfährt immer wieder auch „Zartbitter“, ein Kölner Hilfsverein. Dessen Leiterin, Ursula Enders, sagt, sie werde Strafanzeigen erst wieder unterstützen, wenn der Umgang mit Opfern während der Ermittlung und vor Gericht verbessert werde.
Die Opfer von sexuellem Missbrauch schweigen oft - aus Angst, Scham oder Schuldgefühl
Viele Opfer schweigen, weil sie sich nicht trauen, über ihre Erlebnisse zu sprechen – aus Scham, aus Angst oder weil sie sich schuldig fühlen für das Verbrechen, das ihnen angetan wurde.
Auch Lotta leugnet, als ihre Eltern die Fotos auf dem Computer finden. Die Eltern zeigen Herrn Arnold an. Die Polizei ermittelt und stellt Lotta unangenehme Fragen. Sie schweigt. Eines Abends kann sie nicht mehr und erzählt ihren Eltern vom coolen Lehrer, von den SMS, vom ersten Treffen und vom Sex.
Lotta heißt in Wirklichkeit nicht Lotta. Und Herr Arnold heißt nicht Herr Arnold. Die Opfer wollen und sollen anonym bleiben. Diese Geschichte und ihre beiden Charaktere sind deshalb konstruiert – aus realen Fällen an Schulen oder in Sportvereinen in NRW, aus Gerichtsverhandlungen, aus Medienberichten, aus Büchern und aus Gesprächen mit Forschern, Pädagogen und Opfern. In ihren Mustern gleichen sich viele Fälle, sind typisch.
Die Täter suchen sich gezielt Jobs in Schulen, Internaten, Kinderheimen oder Sportvereinen
Das heißt: Es gibt Anzeichen für sexualisierte Gewalt, die erkennbar sind, es gibt Strukturen und Abläufe, die zu verhindern sind. Es ist kein Zufall, dass Herr Arnold ein Mann ist. Bis zu 90 Prozent der Täter sind männlich.
Es ist auch kein Zufall, dass Herr Arnold Lehrer ist – er bringt zwar einen Berufsstand in Verruf. Täter aber gehen meist gezielt vor, erklärt Tschan. Oft suchen sie sich dort eine Aufgabe, wo sie Kindern und Jugendlichen nahe kommen, an Schulen, Internaten, Heimen oder in Sportvereinen. Herr Arnold könnte auch Kindergärtner sein, Trainer, Jugendbetreuer oder Gitarrenlehrer. Sexuelle Übergriffe sind überall dort möglich, wo Erwachsene Kindern begegnen. Dazu sagt Tschan: „Institutionen sind Hochrisikobereiche.“
In den meisten Fällen von sexualisierter Gewalt kann oder will das Umfeld die Taten nicht erkennen
Es ist auch kein Zufall, dass Herr Arnold beliebt ist. „Das Hauptproblem ist, dass sich das niemand vorstellen kann“, sagt Tschan. „Dann heißt es: Der doch nicht! Es gibt meistens jemanden, der die Grenzverletzungen, die sexualisierte Gewalt, nicht erkennt, nicht wahrnehmen will oder schlicht wegschaut. Das große Problem der Institutionen war und ist ihre Blauäugigkeit.“
Täter nutzen das, geben sich hilfsbereit und fallen nicht unangenehm auf. „Täter verschleiern und tarnen ihre Taten“, sagt Tschan. Sie wissen in aller Regel, dass sie Unrecht tun.
Auch Herr Arnold, verheiratet, zwei Kinder, weiß das. Er ist selbst überrascht, dass er sich zu Lotta hingezogen fühlt. Aber er folgt seinen Trieben, die er später vor Gericht „Gefühle” nennt. Lotta ist verliebt. Sie glaubt, auch er spiele das Spiel der Liebe, und malt immer, wenn sie sich heimlich treffen, ein rotes Herzchen in ihren Kalender.
Der holländische Psychotherapeut Ruud Bullens schreibt in einem Aufsatz: „Es sieht häufig so aus, als ob der Täter über einen ‚sechsten Sinn’ verfügt, um die spezifische Verletzbarkeit eines Kindes zu entdecken und voll auszunutzen.“
Die Täter machen ihre Opfer willig und abhängig, sie drohen und fordern Verschwiegenheit
Sexueller Missbrauch ist immer auch der Missbrauch von Macht. Opfer folgen häufig ihrem Wunsch nach Anerkennung oder Liebe. Täter schaffen Abhängigkeiten, drohen mit dem Entzug ihrer Aufmerksamkeit, fordern Schweigen.
Herr Arnold stellt für Lotta Regeln auf. Erstens: Wir genießen uns. Zweitens: Wir sprechen mit niemandem darüber. Weil wir drittens etwas ganz Besonderes sind. Herr Arnold weiß, dass er Lotta kontrollieren muss. Wenn sie jemandem von ihm erzählt, dann bricht sein Leben zusammen, dann verliert er seinen Job, seine Frau, seinen Ruf.
Als die Schule von dem Fall erfährt, reagiert sie – anders als manch andere Einrichtung in der Vergangenheit – schnell und suspendiert den Lehrer unmittelbar. Er gesteht und wird verurteilt, zu knapp unter zwei Jahren Bewährung. An einen Hilfsverein und an Lotta muss er je einen vierstelligen Betrag zahlen.
Weitere Berichte, Dokumentationen und Interviews finden Sie auf unserem Blog über sexuellen Missbrauch in NRW. Wir recherchieren weiter über sexuellen Missbrauch in NRW. Und wir interessieren uns für Ihre Infos. Sie haben Tipps oder Hinweise? Dann kontaktieren Sie uns, gerne auch vertraulich. Über das oben genannte Blog erreichen Sie uns anonym. Sie können uns auch direkt schreiben an recherche@waz.de