Dortmund. . Die Idee, sich ganz ohne tierische Produkte zu ernähren, galt vor kurzer Zeit noch als so radikal wie eine Bank zu verstaatlichen. Doch die vegane Ernährung ist auf dem Vormarsch. Zwar langsam, aber sie findet immer mehr Anhänger.
An der Kasse scheint es, treffen zwei Welten aufeinander: Der großflächig tätowierte Andy Robl mit Nasenring und das elegant gekleidete Ehepaar Ellen und Wilfried Lohsträter aus Kamen, 64 und 65, das sich im einzigen veganen Supermarkt der Region informieren möchte über tierlose Lebensmittel. Das ist nun eine oberflächliche Betrachtung, denn natürlich sind sie alle drei offene und herzliche Menschen, das merkt man gleich. Aber bei „Vegilicious“ am Dortmunder Bissenkamp werden wir doch Zeuge einer gesellschaftlichen Verschiebung: Vegan kommt aus der Nische. Die Idee, auf Fleisch, Fisch, Eier, Milch, Honig, alles Tierische, zu verzichten, verliert ihre Radikalität.
„Wir essen manchmal noch eine Scheibe Wurst“, sagt Ellen Lohsträter. „Aber meine Schwester ist eingefleischte Vegetarierin. Und wir tendieren auch immer mehr in diese Richtung.“ – Warum? – „Aus Tierliebe, die Massentierhaltung ist so dermaßen abschreckend. Aber auch, weil wir immer mehr gute Alternativen kennengelernt haben. Meine Tochter Anna hat uns neulich ein Tofuschnitzel mit Spinat-Füllung mitgebracht. Das war richtig lecker. Dort drüben steht es im Regal.“ Gleich neben dem BBQ-Enten-Geschnetzelten aus Weizengluten, den Vegarnelen und, ja, den Hähnchenschlegeln auf Sojabasis. Als Knochen fungiert ein Stück Zuckerrohr.
Veggie Street Day
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„Dieses Nachäffen von Fleisch“, sagt Verkäufer Andy, „wird hier fast täglich diskutiert. Viele wollen es nicht, weil es eben so aussieht wie Fleisch. Ich denke, Würstchen oder Burger sind halt eine praktische Form. Nur mit der Namensgebung hab’ ich schon auch ein Problem.“ Ob der Veggie-Thunfisch auch nach Thunfisch schmeckt? „Ich glaube schon. Es ist so lange her, dass ich echten probiert habe. Aber ganz ohne Vergleich: Hauptsache lecker.“
Es ist ja auch keineswegs so, dass die vegane Küche nur von Ersatzprodukten lebt – nur verkaufen sie halt bei „Vegilicious“ kein Gemüse, weil man das überall bekommt. Der Blick in das ausliegende Kochbuch von Björn Moschinski zeigt: Die meisten Zutaten gibt’s um die Ecke oder im Bioladen. Und das sieht auch gar nicht nach Verzicht aus. Da gibt es neue Delikatessen zu entdecken, neue Kochtechniken, Geschmäcker! Das Kastanienmus ist vielleicht die höherwertige Nutella.
Spezialanliegen oft nur online
Gewisse Spezialanliegen wird man allerdings nur online oder hier im „Vegilicious“ finden – wie den „Schakalode-Osterhasen“ oder das indische Kala-Namak-Salz, das durch seinen Schwefelanteil „vielen Gerichten das typische Ei-Aroma verleiht“. Und diese Weizen-Knabberlis für den veganen Hund haben doch tatsächlich die Form von Igeln! Die Nachfrage nach dem Eiersatz „No Egg“ aus Tapiokamehl und Kartoffelstärke zum Backen stieg jedenfalls rapide an nach dem letzten Dioxin-Skandal, berichtet Geschäftsführer Ralf Kalkowski. „Unseren Laden gibt es seit zwei Jahren. Das erste war hart, aber die Kunden kommen jetzt aus dem ganzen Ruhrgebiet.“
Wie die ältere Dame aus Gladbeck, die über eine Stunde mit der Bahn angereist ist. „Meine Tochter ist Allergikerin und verträgt keine Milch und Eier“, sagt sie und packt eine Packung „Virginia Steaks“ aus Weizenhack in den, ja, Hackenporsche. „Aber in dem Maße, in dem ich anders koche, ekle ich mich auch immer öfter vor Fleisch.“
Die Idee, sich ganz ohne tierische Produkte zu ernähren (und zu kleiden), galt vor kurzer Zeit noch als so radikal wie eine Bank zu verstaatlichen. Doch sie wird immer weniger erklärungsbedürftig. Denn das haben heute Leute wie Attila Hildmann übernommen. Der selbstgelernte Kochguru aus Berlin ist derzeit auf Dauersendung von Raab bis Galileo. Sein Kochbuch „Vegan for fit“ ist bei Amazon in manchen Wochen das meistverkaufte Buch überhaupt. Rund 72 000 Leute haben es sich zugelegt – und nehmen mutmaßlich die Wette an, die Hildmann ihnen anbietet: 30 Tage lang vegan, probiert’s mal aus. Wetten, ihr fühlt Euch danach besser?
Kann man aus den falschen Gründen Veganer werden?
Bezeichnenderweise findet man den Bestseller nicht bei „Vegilicious“. Die Szene sieht Attila Hildmann kritisch, weil er den Gesundheitsaspekt betont und seltener den Tierschutzgedanken, weil er die Radikalität rausnimmt, indem er sagt: „Jede Mahlzeit hilft. Ihr müsst ja nicht sofort voll vegan leben“ – und weil er damit kommerziell erfolgreich ist, vermutet auch Andy. „Ich denke aber: Wenn einige aus den falschen Gründen Veganer werden, hilft das den Tieren auch. Perfekt kriegt’s sowieso keiner hin.“
Sexy Vegetarier
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Etwas hat sich geändert, alle hier spüren das. „Vor fünf Jahren war der Einkauf noch problematisch“, erinnert sich Kunde Michael von Amern. „Mittlerweile hat ja jeder Aldi eine vegetarische Ecke.“ Der 28-jährige Diplom-Ingenieur ist seit fünf Jahren Veganer, ebenso wie seine Freundin und die zwei Kinder. Mangelerscheinungen? Immerhin empfehlen selbst Hildmann oder die Organisation Peta Vitamin-B12-Präparate. Da achtet die Familie drauf. „Und ich bin seit fünf Jahren kein einziges Mal krank geworden.“ Auch in der Firma nehmen sie Rücksicht. Selbst Geschäftsessen mit Kunden finden oft in vegetarischen Restaurants statt. Negative Reaktionen? „Nein, aber es ist auf jeden Fall Gesprächsstoff.“
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