Im Norden. . Eine Liebe, bedroht von Zwangsheirat und Ehrenmord: Die gebürtige Libanesin Merwat und ihr deutscher Ehemann Karsten, ein Paar aus dem Ruhrgebiet, verstecken sich seit über drei Jahren aus Angst vor ihrer Familie.
Sie haben geheiratet vor ein paar Wochen, und wer sich die Geschichte von Karsten und Merwat* erzählen lässt, der ahnt, was es ihnen bedeuten muss. Seit drei Jahren ist das junge Paar aus dem Ruhrgebiet auf der Flucht. Mitten in Deutschland, mitten unter uns. Aus Angst vor dem, was Ehrenmord genannt wird, gejagt von Merwats libanesischer Familie. Denn Karsten und sie, das darf nicht sein. Und so war diese Hochzeit zwar ein „sehr schöner Tag“ für sie, aber eben kein Happy End. Denn sie wissen: „Wir werden uns ein Leben lang verstecken müssen!“
„Schulze“ nennen sie sich. Ein Allerweltsname für ihre Mailbox und den Briefkasten. Am Telefon hat ihre Stimme sehr vorsichtig geklungen, und erst als sie Vertrauen zu schöpfen scheint, schlägt sie einen Treffpunkt vor. Irgendwo im Norden Deutschlands, ein unbekanntes Städtchen, vor dessen Rathaus. Ein strategisch günstiger Ort. Rechts und links führen Straßen vorbei, optimal also, um im Auto sitzend erst einmal das Terrain zu sondieren und notfalls im letzten Moment noch durchstarten zu können.
"Heirate deinen Cousin oder Du wirst umgebracht"
Merwat und Karsten. Er hat einmal Anstreicher gelernt und stieg danach bei einer Fast-Food-Kette zum stellvertretenden Filialleiter auf. Sie ist Teil einer vierzehnköpfigen Familie, die vor Jahrzehnten aus dem Libanon kam und in Deutschland Asyl erhielt. Seit knapp vier Jahren sind sie ein Paar, ein paar Monate später sehen sie sich gezwungen unterzutauchen. „Heirate deinen Cousin!“, droht Merwats ältere Schwester, „wenn nicht, sage ich Vater, dass Du einen Freund hast, und ihr werdet beide umgebracht.“
Merwat kennt ihre Familie gut genug, um zu wissen, wie ernst die Lage ist. Wenig zuvor ist eine Verwandte in Göttingen ums Leben gekommen, und die männliche Verwandtschaft brüstet sich mit der Tat. Merwat und Karsten haben damit gerechnet, dass sie genau in diese Situation geraten würden. Aber in diesem Moment ist nichts vorbereitet, gibt es keinen Plan.
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Eine dramatische Flucht beginnt. Sie zieht von Frauenhaus zu Frauenhaus. Er taucht bei seiner Familie unter, um ihr bald zu folgen. Sie hat nur das, was sie am Leib trägt und ein paar Papiere, die sie unauffällig einstecken konnte. Ihm gelingt es nicht mehr, Wichtiges aus seiner Wohnung zu holen. Freunde warnen ihn, „ein Auto mit Schwarzköpfen“ parke vor dem Haus. „Ich hatte Angst wie noch nie in meinem Leben!“, sagt er. Wochenlang werden sie seine Wohnung beobachten, auf der Suche nach Merwat und Karsten Familie, Freunde, den Arbeitgeber bedrängen.
Die Eltern verboten ihrer Tochter eine Ausbildung
Ohne Jobs geht ihnen bald das Geld aus, er landet in einem Obdachlosenhaus. Nur, um in ihrer Nähe zu sein. Es ist der kalte Dezember 2008. In dieser Großstadt irgendwo in Deutschland glitzern Tannenbäume, schleppen Menschen Geschenke für ihre Lieben.
Zu tun, was ihre Familie von ihr erwartet, lernte Merwat schon früh. Sich um den Haushalt kümmern, um die jüngeren Geschwister und mit 14 ohne großen Widerspruch den Cousin als künftigen Ehemann akzeptieren. „Sie standen alle im Kinderzimmer. Es war sehr eng, und sie redeten auf mich ein. Ich war noch ein Kind und sagte Ja“, erinnert sich Merwat. Es sei in der libanesischen Gemeinschaft üblich, die Regeln der Familie einzuhalten.
Merwat ist 22 Jahre alt, als sie in der Fast-Food-Kette ihrer Heimatstadt im nördlichen Ruhrgebiet zu arbeiten beginnt. Eine Ausbildung hatten ihr die Eltern verboten, obschon sie mit ihrem guten Realschulabschluss Chancen hatte. Karsten, ihr Chef, verliebt sich sofort in sie. Gefühlte 20.000-mal bittet er sie, mit ihm einen Kaffee trinken zu gehen. Immer lehnt sie ab. Er ahnt, warum. Sieht er doch, dass ihre Brüder sie jeden Tag von der Arbeit abholen. Irgendwann kommen sie tatsächlich zusammen, und fast ein Jahr lang glauben sie, ihr Glück tarnen zu können. Sie weiß: „Es war ja schon gefährlich, mich mit ihm zu unterhalten. Die hätten mich umgebracht!“
Von der Familie beobachtet
Was Merwat nicht ahnt: Die Familie beobachtet sie längst heimlich. Als die Situation eskaliert, willigt Merwat zum Schein in die Hochzeit mit dem Cousin ein. Nur, um am Tag darauf das Haus verlassen zu können.
Für Paare wie sie und Karsten, für vor dem „Ehrenmord“ Flüchtende, gibt es in Deutschland keine Schutzhäuser. Notdürftig untergekommen, irren sie also in den nächsten Wochen tagsüber umher, wärmen sich in Kaufhäusern auf oder bei einem Kaffee. Trotz allem glücklich. Zusammen sein zu dürfen. Sich umarmen zu können in der Anonymität dieser fernen Großstadt.
Und es gibt immer wieder Menschen, die sich ihrer annehmen. Eine Mitarbeiterin der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes besorgt ihnen ein Zimmer. Ein Sozialarbeiter bringt sie vorübergehend in seinem Ferienhaus im Wald unter. Ein anderer vermittelt ihnen nach Jahren auf der Flucht eine kleine Wohnung irgendwo auf dem Land. Die Möbel dafür ergattern sie bei einer Haushaltsauflösung. Endlich Normalität!
Sie zeigte ihre Schwester an
Und Merwat ist nicht nur geflüchtet, sie hat sich gewehrt. Auf Anraten ihrer Düsseldorfer Anwältin Gülsen Celebi, einer Spezialistin für von Zwangsheirat Bedrohte, zeigt sie ihre ältere Schwester an, die ihr gedroht hatte, die Familie werde sie umbringen. Per Video wird Merwats Aussage im September 2011 von einem unbekannten Ort aus in einen Gerichtssaal im Ruhrgebiet übertragen. Zu groß wäre das Risiko, persönlich zu erscheinen. Sie hat Erfolg. Die Schwester wird wegen Nötigung zu einem halben Jahr mit Bewährung verurteilt. Anwältin Celebi: „Die Gefährdung für die beiden bleibt immer bestehen. Aber die Familie weiß nun, Merwat ist kein wehrloses Opfer“.
Ein Leben in der Fremde, in der Anonymität. Auch wir, die Merwat und Karsten treffen, wissen nicht, wo sie wohnen. Besser ist das. Ihre Pläne? „Leben! Arbeit finden. Eine Familie haben“, sagt er. „Auf jeden Fall!“, sagt sie und lächelt. Seine Nichte heiratet bald, und er wird nicht dabei sein können. Sie sehnt sich nach ihrer jüngeren Schwester, macht sich Sorgen um sie. Aber Merwat hat gute Gründe über ihre Geschichte zu sprechen: „Es müssen sich mehr Frauen wehren. Es lohnt sich, für die Freiheit zu kämpfen.“
*Namen geändert