Essen. Ein 16-Jähriger entführt ein Kleinkind, schleppt es drei Stunden durch die Stadt. Dabei war bekannt, dass der Jugendliche psychische Probleme hatte. Er sollte eigentlich in eine Klinik eingewiesen werden. Doch die Unterbringung scheiterte an fehlenden Plätzen. Und für die Eltern des Kleinkinds begann ein Alptraum.
Der Mangel an geschlossenen Heimplätzen für psychisch auffällige oder straffällige Jugendliche reißt offenbar Sicherheitslücken. Ein 16-Jähriger unter Vormundschaft der Stadt Mönchengladbach, der trotz Gerichtsbeschluss nicht untergebracht werden konnte, hat in Hamburg ein Kleinkind entführt und erst nach drei Stunden wieder frei gelassen. Was in der Zwischenzeit mit dem Kind passiert ist und ob es missbraucht wurde, ist nicht bekannt.
Junge galt als aggressiv
Der Fall hat sich im Juni 2011 ereignet. Er wurde jetzt durch das „Hamburger Abendblatt“ publik. Der Jugendliche galt lange vor der Tat als aggressiv und war, so das Mönchengladbacher Jugendamt, „seit seiner Kindheit psychisch auffällig“.
Kurz vor der Entführung sei ein Versuch des Jugendamtes gescheitert, den jungen Mann in eine geschlossene Betreuung einweisen zu lassen, bestätigte die Stadt der WAZ Mediengruppe. „Trotz intensiver Bemühungen des Vormundes“ sei „kein freier Platz“ für den vom Gericht genehmigten Zeitraum gefunden worden. In Deutschland stünden für geschlossene Unterbringungen „nur wenige Plätze in Jugendhilfeeinrichtungen zur Verfügung“. Insgesamt sind es 375.
Mitten auf dem Marktplatz
Es ist der Albtraum junger Eltern: Sie kaufen auf dem Markt ein. Sie nehmen ihr Kleinkind mit. Einen Moment lassen sie vielleicht seine Hand los. Ein junger Mann schleicht sich an. Er hebt das Kind hoch und verschwindet mit ihm.
Genau so geschah es in jenem Juni 2011 auf einem Hamburger Marktplatz. Die Eltern und die Einsatzkräfte der Polizei haben drei Stunden nach dem Kind gefahndet, bevor es in der Nähe des Entführungsorts verstört, aber lebend wieder aufgefunden wurde.
Die Ermittler haben mit Video-Aufzeichnungen der Hochbahn den Weg des Täters und die Odyssee des Opfers durch den Stadtteil St. Pauli rekonstruiert. Es gibt wenige Ausblendungen – eine, als der Entführer mit dem entführten Kind in einer Toilette verschwindet. Was da passierte? Das ist, zumindest öffentlich, nicht bekannt.
Tat wurde zum Schutz von Opfer und Täter verschwiegen
Der Täter, der gefasst wurde, war damals 16 Jahre alt. Wegen des jugendlichen Alters und zum Schutz der Familie des Opfers haben Hamburgs Behörden über das Geschehen fast ein Jahr geschwiegen. Der Jugendliche ist wegen Entziehung eines Minderjährigen verurteilt worden. Das „Hamburger Abendblatt“ hat den Vorgang am Wochenende ausführlich erzählt.
Neben dem Leid des traumatisierten Opfers offenbart der Fall Lücken in der Behandlung Jugendlicher, die psychisch auffällig oder straffällig sind. Hätte die Entführung verhindert werden können?
Die Spur führt nach Nordrhein-Westfalen. M., so wird der 1995 in Gießen geborene junge Mann genannt, stand unter der Vormundschaft des Jugendamtes im rheinischen Mönchengladbach. „M. ist seit seiner Kindheit psychisch auffällig“, sagt Dirk Rütten, der Stadtsprecher. „Daher wurde er durch das Jugendamt in einer individualtherapeutischen Einrichtung in Thüringen im Rahmen einer 1:1-Betreuung untergebracht“.
1:1 - das bedeutet: Ein Therapeut für einen Patienten. Dass das nicht immer reicht, zeigt in diesem Fall das Register der Straftaten. Räuberische Erpressung, Nötigung, Körperverletzung. Der Gutachter in Hamburg wird später im nicht-öffentlichen Prozess von einer „tickenden Zeitbombe“ sprechen und von hoher Aggressivität. Als die Polizei den Täter vernehmen will, nutzt sie Pfefferspray, um seinen Widerstand zu brechen.
Auch in Mönchengladbach hatten sie die Gefährlichkeit erkannt. Die offene Betreuung in Thüringen habe „nicht den gewünschten Erfolg“ gehabt, sagt Rütten.
Bundesweit nur 375 Plätze
Ende Mai 2011: Die Gladbacher erwirken am Amtsgericht in Stadtroda einen Beschluss nach § 1631 b des Bürgerlichen Gesetzbuches. Der erlaubt dem Vormund, einen Jugendlichen für längstens sechs Wochen in einer geschlossenen Einrichtung der Jugendhilfe unterbringen. Es ist keine Order des Gerichts, eher eine Erlaubnis, zum Schutz des Jugendlichen oder Dritter zeitweise die Freiheit zu entziehen. Das Jugendamt geht auf bundesweite Suche nach einem Platz zwischen dem 30. Mai und 3. Juli. Das, berichtet die Stadt heute, war „trotz intensiver Bemühung des Vormundes“ vergeblich. Alle Plätze sind belegt.
Tatsächlich gibt es bundesweit nur 375, wie Sabine Hoops vom Deutschen Jugendinstitut bestätigt. 159 für männliche, 107 für weibliche, 109 weitere für beiderlei Geschlecht. „Die Plätze sind sehr unterschiedlich ausgerichtet, nicht immer für alle Altersgruppen geeignet“. Vielleicht auch nicht für alle Sicherheitsstufen. Der Stadtsprecher vermutet da Lücken. Der geschlossene Charakter sei nur „fakultativ“, sagt er. Mal so, mal so.
Ein gefährlicher Mangel
Dass neun Bundesländer über keine Einrichtung verfügen, scheint ein Grund für die Engpässe zu sein. Ihre Fälle müssen auf andere verteilt werden. Auch auf NRW. Hier gibt es immerhin 78 Plätze.
Kurz nachdem das Jugendamt aufgegeben hatte, verschwand M. aus Thüringen – nach Hamburg. Mehrfach ging er dort der Polizei wegen Verkehrsdelikten ins Netz. Am Ende nahm er einfach ein Kind mit.