Alphen aan den Rijn. . Bei einem Amoklauf in der niederländischen Stadt Alphen hat ein 24-Jähriger sechs Menschen erschossen und 16 weitere schwer verletzt. Dann richtete er sich selbst. Das Motiv des Mannes war am Tag danach noch völlig unklar.

Die Nacht ist vorbei, der Alptraum ist es nicht: Sie können ihn anfassen an den Absperrgittern, sehen an der vielen Polizei, lesen auf den Flatterbändern. „Politie. Niet Betreden!“ Um das abgesperrte Einkaufszentrum „de Ridderhof“ herum stehen Menschen in Paaren, in kleinen Gruppen beisammen, sie schweigen; und schweigen sie nicht, so besprechen sie, dass ihnen die Worte fehlen. „Man erwartet so etwas nicht und kann es sich nicht vorstellen“, sagt Pfarrer Meindert Burema aus dem direkt angrenzenden Gemeindezentrum „de Bron“, das zum Sperrgebiet gehört: „Sowas passiert in Amerika, aber doch nicht hier.“ Schüsse und Schreie hat er noch im Ohr, Flatterbänder und Forensiker vor Augen. Und „Angst und Unsicherheit“ sieht er erst noch kommen.

Amok war in Alphen am Rhein.

Samstag gegen 12 Uhr fängt an, was die Stadt erschüttern wird. In diesem kleinen Vorstadt-Einkaufszentrum „de Ridderhof“: Abschottungsarchitektur der 70er-Jahre, keine Schaufenster, Parkdecks, Fußgängerbrücken. Hier auf dem Parkplatz hat Tristan van der V. mit einer automatischen Handfeuerwaffe jetzt zu schießen begonnen, ein 24-Jähriger in Bomberjacke und Tarnfarbenhosen, mit halblangen, lockigen Haaren. Er geht in das Gebäude, schlendert geradezu, wirkt ganz ruhig, wie Augenzeugen berichten – und schießt weiter um sich. Hülsen fliegen, er lädt nach. Panik bricht aus, Menschen rennen davon.

„Ich sah gegenüber eine Frau laufen, die ich kenne. Sie wollte in ein Geschäft“, erinnert sich Marjolein Nieuwland in „De Volkskrant“. Sie selbst hockt hinter einem Regal, und da „sah ich einen großen Jungen kommen, der sie kaltblütig niederschoss. Danach sah ich ihn sehr ruhig weitergehen.“ Später wird sie eine andere Bekannte tot auf der Straße sehen – und die Leiche des Täters im Supermarkt von Albert Heijn. Da hat er sich in den Kopf geschossen.

Und nun zieht das Verbrechen seine Furcht einflößenden Kreise: „Wir saßen im Garten, da hörte ich plötzlich so viele Sirenen und Hubschauber, ich dachte, es muss etwas ganz Schlimmes passiert sein“, sagt Martin Wynans aus der Nachbarschaft. Er macht sich auf zum Gemeindezentrum, will helfen. Dort hat die Polizei inzwischen um die 200 Menschen einquartiert, Beschäftigte und Besucher aus dem Ridderhof; Ärzte sind da, Pfarrer, es gibt Kaffee und Tee, Zuhören und Zuspruch und in den Arm Nehmen. „Schrecklich für die Zeugen, so etwas sehen zu müssen, den Tod“, sagt Wynans.

Ein Einkaufszentrum voller Familien wird an einem Frühlingstag zum Ort des namenlosen Schreckens, sieben Menschen sind tot, schlimmer geht es fast nicht – doch der Alptraum nimmt noch eine Wendung. Denn im Auto des Täters findet die Polizei sehr bald einen Zettel, auf dem van der V. behauptet, noch in anderen Zentren Bomben gelegt zu haben. Nun gehört den Menschen in Alphen sogar ihre eigenen Innenstadt nicht mehr: Die Polizei lässt drei Zentren räumen, durchsucht sie, sperrt weiträumig ab – und draußen ist bis spät in die Nacht kaum noch ein Durchkommen. Die Bomben indes gibt es nicht.

Dabei hat eine andere Suche längst begonnen: Wer war dieser Mann, und was hat ihn angetrieben? Tristan van der V. wohnte hier ganz in der Nähe, wohnte mit seinem Vater in einem neunstöckigen Hochhaus; seine Mutter hat ein Geschäft in „de Ridderhof“. Der 24-Jährige war Mitglied in einem Schützenverein, hatte eine Genehmigung für fünf Waffen und besaß drei. Wegen illegalen Waffenbesitzes war er aktenkundig, ein Vorfall wohl aus seiner minderjährigen Jugend.

Abschiedsbrief: Keine Aussagen zum Motiv

Zunächst kann die Polizei nicht erklären, wie jener illegale Waffenbesitz zusammenpasst mit dem legalen Waffenschein. Auch andere Fragen bleiben offen: So gibt es einen Abschiedsbrief mit Selbstmordgedanken, aber keinen Erklärungen zum Motiv. „Sicher ist nur: Er war ein Einzeltäter“, sagt Staatsanwältin Kitty Nooy.

Und das in Alphen! Einer teilweise sehr holländisch ausschauenden Stadt zwischen Amsterdam und Den Haag; die Gegend, die sie „Das grüne Herz“ nennen. „Wir dachten, das gibt es nicht in den Niederlanden. Wir kennen diese Art Exzess nicht“, sagt Martin van der Ploeg, auch er aus der Nachbarschaft: „Hier ist mein Zuhause, wo ich mich sicher fühlen will, und das ist jetzt weg.“

Auf der einen Seite des Ridderhofs steht eine Trabantensiedlung, ausgerechnet an einer „President Kennedylaan“, Neun- bis Zwölf-Stöcker von unterschiedlich unfreundlichem Aussehen; auf der andern Seite aber beginnt die typische holländische Reihenhaussiedlung. Troubadourweg heißen hier die Straßen, Chopinsingel, Figarohof, Carmenplein. Hier liegt auch das gesperrte Gemeindezentrum, und die Menschen, die jetzt zum Gottesdienst kommen, die kommen hier nicht weiter. Die Messe wird verlegt. In die „Goede Herderkerk“. Die Guter-Hirte-Kirche. Die Heilung beginnt.