Eine brutale Attacke in der Münchner U-Bahn löste die Debatte um Jugendkriminalität aus. In Essen wurde jetzt eine 83-jährige Frau an der Haltestelle niedergestochen. Werden Rentner regelmäßig verprügelt, Frauen in Bus und Bahn angemacht?

Ruhrgebiet. Auf einer Bahnstrecke im östlichen Revier unterhalten sich Fahrgäste bereits morgens darüber, in welcher Kurve die Bierflasche von der Ablage fällt, wenn man sie nicht rechtzeitig festhält. Es gibt Menschen, die sich in solcher Gesellschaft verängstigt fühlen, die dann beschämt aus dem Fenster schauen und ganz schnell aussteigen.

Als Bahnfahrerin kann man solche Dinge beobachten. Das gehört dazu. Genauso wie Jugendliche, die pöbelnd mit angezündeter Zigarette durch Zugabteile rennen, oder Haltestellen, die nachts derart schlecht beleuchtet sind, dass jede Frau gut beraten wäre, eine Taschenlampe mitzubringen. Bahnfahren hat kein gutes Image, zur Zeit schon mal gar nicht. Aber ist es wirklich so schlimm geworden? Muss man Angst haben, als Frau nachts angemacht und als Rentner von einer Jugendbande verprügelt zu werden?

Dirk Kühnert, VRR-Sicherheitschef und viel auf den Streckennetzen des Reviers unterwegs, hat vor wenigen Tagen die Diskussion darüber in NRW zusätzlich angeheizt. Er teilte in einem Interview mit, dass die Brutalität im Bahnverkehr zugenommen habe. Vor allem nachts. Zwei von drei Tätern seien Jugendliche. Auch wenn man jetzt darüber debattiert, ob und um wie viel die Gewaltzahl tatsächlich zugenommen hat, sagt Sabine Tkatzik, Sprecherin des VRR: „Wir können nicht komplett ausschließen, dass die Gewaltbereitschaft auch im öffentlichen Nahverkehr ankommt.” Das hieße aber nicht, dass Bahnfahren unsicher sei. „Es gibt Überwachungskameras, eine sehr gute Kooperation mit der Polizei, und Sicherheitsdienste."

Am vergangenen Freitag stach ein 35-Jähriger nach einer Rangelei an einer Essener Haltestelle eine 83-Jährige nieder. Das war kein Jugendlicher. Und während die einen schimpfen, es sei ja alles so schlimm geworden – „nach München jetzt Essen”, schreibt ein Leser im Internet – berichten andere von früher. Da war auch nicht alles rosig.

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© Frank Vinken /waz

Eine 43-Jährige, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, nimmt da kein Blatt vor den Mund: „Wer als junge Frau in einer Großstadt aufwächst und sich ausschließlich mit Bus und Bahn fortbewegen muss, der hat ein wirklich objektives Bild von dem, was abgeht”, sagt sie, und fügt hinzu: „Ich persönlich habe alles mit allen Nationalitäten, auch Deutschen erlebt. Ob deutsche Männer einen in der U-Bahn morgens sexuell belästigen, Betrunkene widerlich anquatschen, Schwarze penetrant anmachen oder Muslime frauenfeindlich beschimpfen. Da kann ich wirklich alle in einen Sack stecken.”

Eine bestimmte Tätergruppe gibt es ihrer Meinung nach nicht. Selbst Frauen seien aggressiv. Ihre Erfahrungen hat sie bereits vor 20 Jahren in Hamburg gesammelt. „Gerade die S-Bahnen waren schlimm, die Wagen waren voneinander abgetrennt, niemand konnte schnell zur Hilfe kommen.” In diesem Punkt hat sich sogar vieles verbessert: Heute haben die S-Bahnen Verbindungstüren, und oft ist beim VRR auch noch Sicherheitspersonal unterwegs. Oft, heißt aber nicht immer. Es kann auch sein, dass man nachts auch mal keine Streife sieht. Aber die Kamera-Überwachung sei zum Beispiel weiter ausgebaut worden, heißt es.

Darauf will sich Annika Dröge (25) nicht verlassen. Am Dortmunder Bahnhof berichtet die Studentin von ihren Erlebnissen: „Wenn man nachts hier ankommt, dann stehen nur noch irgendwelche düsteren Gestalten herum. Deshalb vermeide ich das.” Passiert sei ihr aber noch nie etwas. Eine Frau erzählt am Bahnsteig, dass ihr vor allem lärmende Jugendgruppen Angst machen. „Gegen einen könnte man ja noch etwas sagen, aber gegen mehrere?” Überhaupt hätten manche ein Auftreten, „mit ihren lauten Musik-Handys, so rücksichtslos.” Das hätte sich früher keiner erlaubt. Tina Puhe (31), die viel in Düsseldorf mit der Bahn fährt, meint: „Angst habe ich keine. Aber leere S-Bahn-Waggons meide ich schon.” Und: „Wenn die Bahnen nicht oft so beschmiert, verdreckt und die Bahnsteige etwas heller beleuchtet wären, dann würde man sich generell schon viel wohler fühlen.” Auch sie hat noch nie eine Gewaltsituation erlebt.

Fest steht: Wer viel Bahn fährt, der braucht mitunter Nerven. Nerven für die Enge im Feierabendverkehr, Nerven für die Menschen, die sich über eine begrenzte Zeit ungefragt einen Raum teilen müssen. Bahnfahren fördert die eigene Toleranz, jeden Tag aufs Neue. Man muss es ertragen können, dass Leute in ihre Handys schreien, in der Hoffnung so ein Funkloch zu überbrücken. Dass Ei-Brote ausgepackt werden, dass Schulklassen einen gewissen Geräuschpegel mit sich bringen. Wer das nicht kann, der sollte lieber mit dem Auto fahren.

Ob jemand Angst hat oder sich belästigt fühlt, oder, ob eine Situation eskaliert, hat auch viel mit dem eigenen Nervenkostüm zu tun. Und es gibt Situationen, die sind nicht mehr tolerierbar. Macht man dann den Mund auf? Ein Soziologieprofessor sagte einmal: „Ich verlange von meinen Studenten, dass sie mindestens einmal in der Woche Straßenbahn fahren. Das ist die beste Methode, um die Gesellschaft kennen zu lernen.” Wenn also die Gewalt in den öffentlichen Verkehrsmitteln wirklich zugenommen haben sollte, dann ist das in erster Linie kein Problem der Bahn.

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