Dortmund. . Aus exakt 63 Metern Entfernung wurde Detlev Karsten Rohwedder, Chef der Berliner Treuhandanstalt, 1991 erschossen. Der Täter wurde bis heute nicht gefunden. Noch immer hält sich das Gerücht, die RAF oder die Stasi stecke hinter der Tat.

Eine halbe Stunde vor Mitternacht steht Detlev Karsten Rohwedder im be­leuchteten Arbeitszimmer seines Düsseldorfer Wohnhauses. Er ahnt nicht, dass ihn jemand aus der Dunkelheit durch das Fenster beobachtet. Aus exakt 63 Metern Entfernung. Durch ein Zielfernrohr. Sekunden später liegt Rohwedder getroffen am Boden. Sein Tod vor 20 Jahren am 1. April 1991 schockte ganz Deutschland, aber ganz besonders schockte er die Dortmunder Hoeschianer, deren Chef er noch bis kurz vor seinem Tode war. Manch einen be­schäftigt Rohwedder noch heute.

Werner Nass spricht drei Mal im Monat über Rohwedder. Mindestens. Er spricht immer über Rohwedder, wenn er ehrenamtlich Besucher durch das Hoesch-Museum leitet. Von 1951 bis 2001 arbeitete Nass bei Hoesch. In den Jahren, in denen es um das Überleben des Stahlhüttenwerkes ging und um Arbeitsplätze, da übernahm Nass die Stelle des Betriebsratschefs von seinem Vorgänger Kurt Schrade. Detlev Karsten Rohwedder war zu diesem Zeitpunkt Hoesch-Chef. „Ich war der Gegenpol des großen Rohwedder. Wir haben in Aufsichtsratssitzungen harte Auseinandersetzungen geführt. Für Rohwedder war ich ein lästiger Wadenbeißer“, erinnert sich der 71-jährige Nass.

Wenn er Entscheidungen traf, stand er auch dazu

Hoesch fusionierte 1972 auf dem Höhepunkt der Stahlkrise mit den Königlich niederländischen Hochöfen zum Estel-Konzern. Rohwedder be­­endete diese Zusammenarbeit 1982. Er halbierte die Belegschaft ohne eine einzige Kündigung aussprechen zu müssen. „Natürlich haben wir uns trotzdem immer wieder gegen diese Einschnitte ge­wehrt. 1984 schickte uns Rohwedder für drei Wochen nach Japan und Südkorea. Er wollte, dass wir dort begreifen, wie man konkurrenzfähig arbeitet. Wir haben dort vieles begriffen“, erinnert sich Nass. Rohwedder sanierte den Konzern – teilweise gegen den er­bitterten Protest der Mitarbeiter. „Eines musste ich aber immer anerkennen: Wenn er Entscheidungen getroffen hatte, dann stand er auch dazu – persönlich. Rohwedder hat sich mehrfach den Vorwürfen der Hoeschianer bei Protesten gestellt, er war keiner, der sich vor Kritik versteckt hat“, sagt Nass. Rohwedder war auch keiner, der sich hinter seiner Position verschanzte. Noch heute erzählen sich Hoeschianer, wie Rohwedder nach einer festgefahrenen Verhandlung über Personalabbau den damaligen Betriebsratschef Kurt Schrade an seinem Gartenzaun überraschte, um das Gespräch fortzuführen – mit einer Kiste Bier in der Hand.

Seit 1990 bei der Treuhand

Auch Dr. Alfred Heese, der ehemalige Arbeitsdirektor von Hoesch, erinnert sich gerne an Rohwedders direkte, unverstellte Art: „Er vertrat seine Meinung und seine Entscheidung immer an vorderster Linie. Ich habe dabei oft neben ihm gestanden und einiges abbekommen“, erzählt der heute 81-Jährige. Heese und Rohwedder kamen gut miteinander aus, privaten Kontakt pflegten sie nicht.

Freunde sind auch Nass und Rohwedder nie geworden, respektiert haben sie sich immer. „Deshalb war es ein Schock für mich, als ich erfuhr, dass er umgebracht worden war. Rohwedder war kein Stahlmann – aber er ist über die Jahre ein Hoeschianer geworden. Deshalb hat sein Tod jeden Hoeschianer bewegt“, sagt Nass.

Dabei hatte Rohwedder den Konzern bereits ein Jahr vor seinem Tod verlassen. Im August 1990 wurde er zum Vorstandsvorsitzenden der Treuhandanstalt in Ost-Berlin bestimmt. Seine Aufgabe: Achttausend einst volkseigene Betriebe zu sanieren und privatisieren. Rohwedder selbst kam aus dem Osten, er wurde 1932 in Gotha geboren und verstand die Treuhand als „Aufgabe meines Lebens“.

Ausnahme-Erscheinung
im positiven Sinne

Es blieb ihm nicht die Zeit, diese Aufgabe zu lösen. Am Morgen nach Rohwedders Tod findet die Polizei in einem Schrebergartengelände in den Rheinauen einen Klappstuhl und ein Frotteehandtuch. Die Ermittler sind sich sicher: Von hier aus beobachtete der Täter sein Opfer – und schoss. Fünf Tage nach dem Mord geht bei der Nachrichtenagentur AFP ein mehrseitiges Bekennerschreiben des RAF-Kommandos Ulrich Wessel ein. Die Polizei tappt im Dunkeln. Trotz einer sofort eingeleiteten Ring-Fahndung und unzähligen Spuren – Täter und Tatwaffe werden nie gefunden.

Wohl auch deshalb hält sich hartnäckig die These, dass es nicht die RAF war, die dieses Verbrechen begangen hat. Sondern die Stasi. Dagegen spricht allerdings eine DNA-Spur, die zehn Jahre nach dem Mord untersucht wurde – und die eindeutig Wolfgang Grams zugeordnet werden konnte. RAF-Mitglied Grams erschoss sich selbst, als ihn eine GSG 9-Einheit 1993 in Bad Kleinen festnehmen wollte.

Heese und Nass – der ehemalige Arbeitsdirektor und der ehemalige Betriebsratschef – beide denken noch häufig an Rohwedder. Heese sagt: „Dass dieser Mord nie aufgeklärt wurde, ist unerträglich.“ Manchmal geht Heese im Kopf heutige Wirtschaftsbosse durch. Und dann fällt ihm auf: „Es gibt keinen Typ, der so ist wie er war. Rohwedder war eine Ausnahme-Erscheinung – im positiven Sinne.“