Kamen. Einige Kicker des TVG 1876 Kaiserau aus Kamen spielen seit über 60 Jahren Fußball. Und sie spielen, bis der Arzt kommt. Oder länger.
Natürlich könnte man jetzt sagen, die Mannschaft, die gerade aufgelaufen ist, hat Erfahrung. Das wäre nicht falsch, aber maßlos untertrieben. Denn hier treten mehr als 1000 Jahre gegen das Leder.
Die Leichtathletikhalle einer Schule in Kamen-Kaiserau. Hinten stehen die ganz alten Herren des TVG 1876 Kaiserau . Sechs Spieler, die zusammen auf knapp 500 Jahre kommen. Auf der anderen Seite macht sich der Gegner warm. Die nicht ganz so alten Herren. Aber selbst von denen ist niemand unter 70. Und dann ist da noch der Nachwuchs, den der sportliche Leiter Uli Müller „Die Bambinis“ nennt. Mit Andreas Ermin als Benjamin – gerade mal 57 Jahre alt.
„Jede Woche auf den großen Platz, das geht nicht mehr“
Gib ihnen einen Ball, und sie fangen zu spielen. Zu kicken. „Liegt im Blut“, sagen sie. Manchen schon seit Jahrzehnten, einigen wenigen erst seit dem Ruhestand. „Gibt nicht so viele Mannschaften in unserem Alter“, weiß Müller. Deshalb gibt es auch keinen Liga-Betrieb. Turniere allerdings hin und wieder schon. Dafür schließen sie sich dann mit ähnlichen Mannschaften zusammen. Es geht um die Ehre, die Verlierer müssen die Sieger einen Abend bedienen. Die Alten vom TVG wollen lieber bedient werden. Da kann Training nicht schaden.
Zugegeben, richtig Fußball spielen sie dabei nicht. „Jede Woche auf dem großen Platz, das geht nicht mehr“, sagt Müller. Kurz haben sie deshalb Walking-Football in Erwägung gezogen. Da darf nur gegangen werden, ein Fuß muss jederzeit den Boden berühren, Grätschen sowie härterer Körperkontakt sind verboten und der Ball darf nicht höher als Hüfthöhe spielen. „Aber das war dann doch nichts für uns“, erinnert sich der sportliche Leiter, der nach Ende seiner Amateurkarriere viele Jahre Trainer bei verschiedenen Vereinen in Kamen und Umgebung war.
„Mit der Nummer kannst du zum Zirkus Sarasani gehen“
Am Ende sind sie im Training beim Fußball-Tennis gelandet. Durchaus anspruchsvoll, aber mit geringer Verletzungsgefahr. Vier gegen vier mit fliegenden Wechseln. Jeweils drei Spieler müssen den Ball vor dem Schuss über das Netz berührt haben, und zwischen jeder Berührung muss das Leder einmal aufticken. „Sonst wird das schnell zu so einer Pöhlerei“, sagt Willi Gäher (80), lange Jahre gefürchteter Außerverteidiger in den Amateurligen der Region.
Pöhlen wollen sie nicht, pöhlen müssen sie auch nicht. Man staunt als Zuschauer über die filigrane Ballbehandlung der alten Herren. Mit der Brust nimmt Gäher das Leder an, lässt den Ball abtropfen und hebt ihn gekonnt über das Netz, genau an die Stelle, an die er ihn haben möchte. Gelernt ist schließlich gelernt. „Die Technik bleibt“, sagt Gäher. „Ein bisschen Auge, ein bisschen Gefühl im Fuß“, schon ist der Ball dein Freund. Gefrotzelt aber wird selbst bei besonders gelungener Behandlung der Kugel. „Mit der Nummer kannst du zum Zirkus Sarasani gehen“, sagt Peter Göke (72) dann schon mal.
Überhaupt ist der Ton rau, aber herzlich. Ruhrgebiet halt. Altes Ruhrgebiet. Als die Stadien noch Glückauf oder Rote Erde hießen. Die meisten sind dann auch Fans des BVB, von Schalke oder des VfL Bochum. Einen Bayern-München-Anhänger haben sie aber auch. Darf bleiben, der Mann. „Einen Fremdkörper gibt es ja in jeder Mannschaft“, spöttelt Jürgen Berger, mit 85 Jahren der älteste der alten Herren.
Nach Herzstilland zurück ins Team
Berger ist an diesem Abend zum ersten Mal in diesem Jahr wieder in der Halle. Und die Freude bei seinen Mitspielern könnte größer kaum, sein. Denn im Dezember ist der gebürtige Berliner beim Training umgefallen. Herzstillstand, akute Lebensgefahr, Rettung in letzter Minute. „Wir haben nicht geglaubt, dass er je zurückkommt, sagt einer. Berger zuckt die Schultern. „Ich spiele doch schon mein ganzes Leben Fußball.“
Ob er stattdessen nicht lieber Dartpfeile werfen wolle, haben sie ihn in der Reha gefragt. Aber da hat er abgewunken. „Das ist doch was für alte Leute“, sagt er und macht nicht den Eindruck, als sei das als Scherz gemeint. Die Ehefrau, räumt er ein, sei „nicht begeistert“ gewesen von seiner Rückkehr auf den Platz. Aber er hat ihr versprochen, sich strikt an die Anweisung der Ärzte zu halten. „Bei ersten Anzeichen von Erschöpfung sofort auf die Bank.“
Auch die anderen sind „nicht aus Pappe“. Wer jahrelang auf Asche trainiert und gespielt hat, lässt sich von Rückenbeschwerden, ja selbst von einem künstlichen Kniegelenk auf Dauer nicht stoppen. Zumindest nicht im Rahmen seiner Möglichkeiten. „Wer nirgendwo sonst noch spielen kann, der kann immer noch hier spielen“, sagt Horst Claus (77).
Und bei allem Ehrgeiz: Am Ende geht es ja um nichts. Außer vielleicht um das gemütliche Beieinandersein bei kühlen Getränken im Vereinsheim nach dem Training. „Dritte Halbzeit“ heißt das auch hier. Schwächen beim Fußball-Tennis sind dann kein Thema mehr. „Wenn du hier einen Fehler machst“, sagt Uli Neuhaus (81), dann ist das nicht schlimm. Hier macht nämlich jeder Fehler.“