Essen. Viele Rumänen und Bulgaren kommen mit großen Hoffnungen nach Deutschland. Die Realität ist oft eine andere, wie zwei Schicksale zeigen

Als Emil Toma nach Deutschland kam, hatte er einen Wunsch: „Ich wollte meinem Sohn eine bessere Zukunft ermöglichen“, sagt der 51-jährige Rumäne. Zwei Jahre lang arbeitete er bei einem deutschen Unternehmen in der Fleischindustrie. Zwei Jahre, nach denen er schwer krank und erwerbsunfähig wurde.

Um Mitternacht habe seine Schicht in dem Betrieb mit 20, 30 Mitarbeitern begonnen und sie habe oft erst nach 13, 14 Stunden ohne eine Pause geendet. Tomas Aufgabe sei es gewesen, Fleisch für Supermärkte zu kommissionieren. Kollegen zerlegten angelieferte Rinderhälften, Toma verpackte die bestellte Waren zu schweren Kisten - manchmal seien es 400 Kisten am Tag gewesen, die er zu heben und tragen hatte.

Emil Toma möchte seinen richtigen Namen nicht nennen, aber seine Geschichte erzählen - und hofft, dass Betriebe in der Fleischindustrie besser kontrolliert werden.
Emil Toma möchte seinen richtigen Namen nicht nennen, aber seine Geschichte erzählen - und hofft, dass Betriebe in der Fleischindustrie besser kontrolliert werden. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

„Ich habe am Tag 25 bis 30 Tonnen an Waren mit meinen Händen bearbeitet“, sagt der Rumäne, der seinen richtigen Namen nicht veröffentlicht sehen will. Dienstage seien „Folter“ für die Belegschaft gewesen, weil es da besonders viele Bestellungen aus dem Handel gegeben habe. „Es gab Tage, da konnte ich meine Hände nicht mehr benutzen.“ Wenn es nicht mehr ging, sei mit Kündigung gedroht worden. Arbeitsschutzkontrollen habe er in den zwei Jahren nicht einmal gesehen.

Zehn Jahre Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänen und Bulgaren

Seit zehn Jahren dürfen Rumänen und Bulgaren sich als EU-Bürger grundsätzlich in jedem europäischen Land aufhalten und dort arbeiten. Seit 2014 gilt für sie die volle sogenannte Arbeitnehmerfreizügigkeit, eines der großen Freiheitsversprechen der Europäischen Union an ihre Bürger. Nach Deutschland kommen sie mit großen Hoffnungen auf ein besseres Leben - doch die Realität ist nicht selten eine andere, wie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) deutlich macht.

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„Häusliche Pflegekräfte, Reinigungskräfte oder Beschäftigte in der Fleischindustrie leiden in Deutschland und anderen europäischen Ländern häufig unter Dumpinglöhnen, fehlenden Lohnzahlen und der Missachtung von Arbeitsschutz und Arbeitsrechten“, sagt DGB-Landeschefin Anja Weber. Oft seien sie über Monate von ihren Familien getrennt. Der Druck, Geld nach Hause zu schicken, sei groß. „Das nutzen viele Unternehmen aus.“ Weber spricht von Ausbeutung, gegen die sich die Beschäftigten nicht wehren könnten, weil sie wenig über ihre Rechte wissen, kaum Deutsch sprechen und „viel zu oft“ sogar unter Gewaltandrohung eingeschüchtert würden.

Die Gewerkschaftschefin Anja Weber kritisiert die Bedingungen scharf, unter denen viele Rumänen und Bulgaren in bestimmten Branchen arbeiten.
Die Gewerkschaftschefin Anja Weber kritisiert die Bedingungen scharf, unter denen viele Rumänen und Bulgaren in bestimmten Branchen arbeiten. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Um diese Menschen zu unterstützen, hat der DGB-Bundesvorstand 2014 ein deutschlandweites Netzwerk aus 13 Beratungsstellen geschaffen. Jährlich bis zu 7000 Menschen aus Mittel- und Osteuropa werden dort in ihren Muttersprachen beraten und unterstützt - allein 1000 Kontakte gab es zuletzt in NRW.

Gewerkschaft berät Rumänen und Bulgaren zu ihren Rechten

Der gebürtige Rumäne Szabolcs Sepsi hat die Beratungsstellen in NRW aufgebaut und berichtet von Fällen, in denen Menschen keinen oder zu wenig Lohn erhielten, Arbeitszeiten überschritten würden, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ausblieb oder der Arbeitsschutz missachtet worden sei. Betroffen sind auch Branchen, in denen zuletzt sogar Besserung gelobt wurde: Per Gesetz darf die Fleischindustrie Subunternehmen nicht mehr für das Schlachten und Zerlegen beauftragen und keine Leiharbeiter mehr dafür einsetzen. Eingeführt wurden eine Zeiterfassung und zusätzliche Arbeitsschutzkontrollen.

„Immer häufiger kommen ältere Menschen zu uns, die sich nach zehn Jahren kaputt gearbeitet haben“, beobachtet der 36-jährige Sepsi ganz generell. So wie Toma, der nach zwei Jahren mit Mindestlohn und unzähligen beschriebenen Überstunden einen Herzinfarkt bekommen hat und nach vier Operationen heute erwerbsunfähig ist.

Das Landesarbeitsministerium verweist auf regelmäßige Kontrollen in der NRW-Fleischindustrie und Verbesserung durch neue Gesetzesstandards. Die Arbeitsschutzverwaltung gehe kontinuierlich gegen ausbeuterische Arbeitsbedingungen vor und arbeite grenzübergreifend mit anderen Behörden zusammen. „Die Auswahl der kontrollierten Betriebe und der jeweilige Kontrollrhythmus werden risikoorientiert festgelegt. Hinweisen auf Arbeitsschutzmängel wird konsequent nachgegangen und Mängel werden bis zu deren Abstellung verfolgt.“ Das Ministerium verweist auf Meldewege für Betroffene und Beratungsstellen.

300 Pakete am Tag, geliefert bis spät am Abend: Kurierfahrer berichtet von Ängsten

Als besonders kritisch werden die Arbeitsbedingungen im Kurier-, Express- und Paketdienst beschrieben. Der Bulgare Vasil Kabakov, der wie Emil Toma in Wirklichkeit anders heißt, hat über Bekannte den Kontakt zu einem Subunternehmen im Versandhandel bekommen. Bis zu 300 Pakete müsse er am Tag ausliefern, sagt der 46-Jährige, manchmal bis spätabends.

20 Jahre EU-Osterweiterung

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eines der zentralen Freiheitsversprechen der EU. Ganz generell gilt: Jeder EU-Bürger und jede EU-Bürgerin kann sich in jedem Mitgliedsland aufhalten und dort arbeiten. Für Menschen aus Osteuropa gab es nach den EU-Osterweiterungen 2004 und 2007 Übergangsregeln. Seit 2014 gilt für Arbeitnehmende aus Rumänien und Bulgarien die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit.

In NRW leben knapp 170.000 Rumänen und 106.000 Bulgaren. Laut NRW-Arbeitsagentur liegt die Beschäftigungsquote unter Rumänen bei 66,8 und unter Bulgaren bei 51,8 Prozent (NRW insgesamt: 66,5 Prozent).

Muttersprachliche Beratung für Zugewanderte aus Mittel- und Osteuropa in prekären Arbeitsverhältnissen bieten der DGB und „Arbeit und Leben“ an: www.faire-mobilitaet.de

Immer häufiger fahre dann die Angst mit: Die Kurierfahrer riefen sich gegenseitig an, erzählt Kabakov, wenn sie auch um 21 Uhr noch in dunklen Ecken klingeln müssten, um Pakete auszuliefern. Man wisse ja nie, mit welcher Stimmung jemand die Wohnungstüre öffne. Wenn viel los sei, würden erkrankte Kurierfahrer unter Druck gesetzt, zur Arbeit zu kommen, bei Auftragsflaute müsse man unbezahlt zu Hause bleiben. Überstunden würde nicht vergütet, für Schäden am Fahrzeug werde Geld einbehalten, auch wenn kein Vorsatz nachweisbar sei.

Berufsverband verweist auf Qualitätsstandards

Der Bundesverband Paket- und Expresslogistik spricht von einem nicht hinnehmbaren und sehr bedauerlichen Fall, der aber keineswegs die Regel in der Paketbranche sei. Eine Sprecherin verweist auf Qualitätsstandards der Branche, Zertifikate und eine Befragung, nach der ein Großteil der Zustellerinnen und Zusteller mit den wichtigsten Bereichen ihrer Arbeit zufrieden seien. Die oft transportierte Wahrnehmung vom grundsätzlich ausgebeuteten Zusteller sei schlicht falsch. „Zudem transportieren die Zustellerinnen und Zusteller im Schnitt 150 bis 160 Paket pro Tag und nicht 300“, so die Sprecherin.

Der DGB kritisiert, es passiere trotz gesetzlicher Neuerungen immer noch zu wenig, um die Missstände zu beenden. Nötig sei etwa, die europäische Arbeitsschutzbehörde ELA auszubauen und Regelungen konsequenter zu kontrollieren. Die beiden betroffen Männer wünschen sich darüber hinaus: dass genauer hingesehen wird.