Hagen. Das Ruhrgebiet pflanzt sich einen neuen Wald. Neue Baumarten kommen hinzu, eine alte Bekannte aber könnte bald komplett verschwinden.
Das Ruhrgebiet pflanzt sich einen neuen Wald. Das Fünf-Millionen-Bäume-Projekt nennt es der Regionalverband Ruhr (RVR) – das sind so viele Bäume wie die Region Einwohner hat. Würde man sie im üblichen Raster setzen, würden fünf Millionen Bäume rund 2500 Fußballfelder einnehmen. Aber wo sollen diese Flächen herkommen im dicht genutzten Ruhrgebiet? Wo entsteht dieser Wald?
Tatsächlich stehen vier Millionen Bäume bereits, auch wenn sie noch sehr klein sind. Die meisten wachsen auf Flächen, die auch vorher schon bewaldet waren, die aber verwüstet wurden von Sturm, Borkenkäfer und Trockenheit. Ein Schwerpunkt liegt in der Mitte des Reviers, wo die Sturmschäden am größten waren und den Anwohnern schnell ihre Erholungsflächen zurückgegeben werden sollten.
Wirklich neuer Wald entsteht nur auf kleinen Flächen
Neue Wälder entstehen zwar auch, aber diese „Erstaufforstungen“ machen nur einen kleinen Teil aus: 121 Hektar verteilt auf 175 Flächen, die größte ist sechs Hektar groß. Der größere Teil dieser fünf Millionen Bäume wird auch nicht gepflanzt, sondern entsteht durch „Verjüngung“, wie der Forstwirt sagt: also, indem man die Natur machen lässt. Immerhin rund 1,7 Millionen Bäume müssen tatsächlich gekauft und von Hand gesetzt werden.
Ist das Fünf-Millionen-Bäume-Projekt also nur ein cleveres Etikett? Die Wiederaufforstungen müssen ohnehin gemacht werden. Allerdings werden sie nun anders gestaltet. Denn der „neue Wald“ soll im sich wandelnden Klima bestehen können. Die Förster müssen aktiver eingreifen, müssen neue Baumarten setzen, müssen für jeden Standort eine neue Mischung finden und ja, auch experimentieren, erklärt Holger Böse, Chef der RVR-Tochter „Ruhr Grün“. Der Fünf-Millionen-Bäume-Beschluss des Ruhrparlaments von 2019 helfe ihm, die Aufforstungen schneller durchzuziehen. Zum Beispiel konnte „Ruhr Grün“ frühzeitig langfristige Lieferverträge abschließen, denn bis 2027 werden jedes Jahr rund 250.000 Setzlinge benötigt.
Dann will sich das Ruhrgebiet als Ausrichter der Internationalen Gartenausstellung als „grünste Industrieregion der Welt“ präsentieren. Die zu diesem Titel passenden Kriterien hat das Wuppertal-Institut 2021 entwickelt. Der Wald spielt bei mehreren der 35 Indikatoren eine Rolle, von der Erholungsfunktion bis hin zu zusammenhängenden Lebensräumen (dieser Biotopverbund soll bis 2030 im Ruhrgebiet 15 Prozent der Gesamtfläche ausmachen).
Aber auch Lärmbelastung, der Umbau zur klimaangepassten Schwammstadt und das große Feld erneuerbare Energien spielen ins Konzept. Dieses soll „deutlich machen, dass Klima- und Umweltschutz und Industrie keine Gegensätze sind, sondern sich sehr gut ergänzen können“, sagt Nina Frense, die beim RVR den Bereich Umwelt leitet. „Einen solchen Anspruch hat bislang keine Region so deutlich formuliert.“
Die Käfer haben den ganzen Hang vernichtet
Wer nicht oft im Wald ist, kann erschrecken, wenn er plötzlich auf einen Hang blickt wie diesen in Hagen, oberhalb des Freilichtmuseums: eine Wüste aus Stumpen, Spänen und zerwühlter Erde. Hier standen überwiegend Fichten, ein gefundenes Fressen für den Buchdrucker, der seine Brutsysteme in der Borke anlegt. Der Käfer kann aber nur dann einen Baum – oder einen ganzen Hang – töten, wenn er ohnehin geschwächt sind. Das waren die Bäume durch lang anhaltende Trockenheit. 2019 fielen die Nadeln, 2020 musste Revierleiter Oliver Stenzel-Franken die Ausbreitung der Borkenkäfer verlangsamen. Er musste die Harvester zu rufen: „Und die Fichte war Geschichte.“ Es ist absehbar: In den Lagen unter 400 Metern wird diese prägende Baumart zur Seltenheit werden.
Aber wie sieht dann der neue Wald aus? Wir stapfen über den ehemaligen Waldboden, nun ein aufgewühlter, entblößter Acker. Unten an der Ruthmecke stechen drei Auszubildende von „RVR Ruhr Grün“ Löcher für die dürren Setzlinge, die als Bündel mit blanken Wurzeln bereitliegen. 4500 Bäume sollen sie pflanzen, etwa 750 schaffen sie am Tag. Der Boden hier ist steiniger, als in der sandigen Haard im Kreis Recklinghausen, wo sie sonst eingesetzt sind. „Vor zwanzig Jahren hätte ich hier noch ein bisschen Buche gepflanzt“, sagt Oliver Stenzel-Franken. „Aber das hat einfach keine Zukunft mehr“.
Er kennt natürlich die verschiedenen Klimaprognosen. Welche eintreffen wird, ist auch abhängig von Entscheidungen und Erfindungen, aber klar ist: Es wird wärmer und trockener. Zugleich nehmen Starkregenfälle zu. Der Förster kann aber auch nicht einfach Baumarten pflanzen, denen zum Beispiel 2,5 Grad mehr gut bekommen. Denn Bäume, die in Zukunft gedeihen, könnten Probleme in der Gegenwart bekommen. Klimawandel bedeutet auch Wald im Wandel. In den nächsten Jahren werden mehr Bäume sterben und mehr gepflanzt werden müssen. Aber warten kann der Förster auch nicht. Oliver Stenzel-Franken bringt sein Dilemma auf den Punkt: „Ich treffe jetzt Entscheidungen, die erst in hundert Jahren relevant werden.“
Ein amerikanisches Experiment im Ruhrgebiet
Er will experimentieren mit amerikanischen Arten: Die Douglasie und die Küstentanne bilden das Gerüst, dazwischen streut Stenzel-Franken die Colorado-Tanne, den Mammutbaum (Sequoia) und den Riesenlebensbaum, eine Zedernart. Auch die Libanonzeder ist in kleiner Stückzahl dabei. Aber auch traditionelle Arten wie Roteichen, Rotbuchen, Stieleichen hat Stenzel-Franken geordert, und für die feuchten Streifen nahe dem Bach die Flatterulme und die Schwarzerle. Die Kosten pro Setzling liegen im Schnitt unter einem Euro, hinzu kommen die Vorbereitung des Bodens und das Pflanzen. Oft wird dafür auch Arbeitskraft zugekauft. Wenn die Natur schneller ist, wird sie nicht gehindert. Der Holunderstrauch und der Fichtenkeimling, sie werden gelassen.
Dieser amerikanische Hang ist die Ausnahme, erklärt Holger Böse. In den Wiederaufforstungsgebieten dominieren weiterhin einheimische Arten: in der Haard und der Hohen Mark bei Recklinghausen, in der Kirchheller Heide in Bottrop, in der Üfter Mark im Kreis Wesel und im Emscherbruch in Gelsenkirchen zum Beispiel. Oft gepflanzt werden Buche und Eiche, Tanne und Roteiche – und ja, die Douglasie wird man öfter sehen. Die anpassungsfähige Waldkiefer wird sich häufiger auf den Kuppen breitmachen, sagt Böse. Wo der Wald sich selbst verjüngen soll, darf sogar die Fichte wieder in Masse austreiben. Die Mischung wird sich auch auf natürliche Art verändern, nur viel langsamer. Oder, wenn Trockenheit und Fichten-Borkenkäfer erneut zuschlagen, auch schneller.