Unna. Dauerregen, Unterspülung: 37 Menschen müssen Ende 2023 ihre Häuser räumen. Eine Familie kann noch immer nicht heim. Eventuell nie mehr.

Hier ein neuer Riss, dort eine frische Senkung: Das Haus der Liebendahls verrutscht jeden Tag ein ganz kleines bisschen mehr und zerfällt in extremer Zeitlupe. Daniel Liebendahl steht auf dem Bürgersteig, und vier Dinge versperren ihm den Weg hinein: Absperrgitter, Flatterband rot-weiß, ein ausgehängtes „Betretungsverbot“ der Stadt Unna auf Din A 4 - und die Einsicht, dass das Haus verloren ist. „Jedes Mal, wenn man hier hinfährt, ist es blöd“, sagt der 44-Jährige und schluckt. „Meine Frau fährt gar nicht mehr hin.“ Nicole Liebendahl hat ihr ganzes bisheriges Leben hier verbracht.

Die sechs Liebendahls aus dem Hortensienweg 13 sind eine von zwei Familien aus der Straße, die ihr Haus nicht mehr betreten dürfen: das Ehepaar, die betagten Schwiegereltern, der Sohn (19) und ein Urgroßvater. Die Geschichte beginnt am 30. Dezember 2023, als ein Nachbar anruft: „Hier stimmt was nicht. Entweder bin ich bescheuert oder ich sehe Risse in meinen Wänden.“ Die Feuerwehr kommt einmal, die Feuerwehr kommt zweimal, dann das THW, eine Geologin schon mit Blaulicht, es kommt zu einem Krisenstab und abends zum Beschluss: Einsturzgefahr, alle raus! „Nehmen Sie nur das Nötigste mit. Sie haben zehn Minuten.“ 37 Menschen müssen am Abend vor Silvester ihre 20 Häuser verlassen. Prost Neujahr!

„Hier fehlen Dinge, die der Wahrheitsfindung dienen“

Aus Gründen der Gefahrenabwehr hat die Stadt ein „Betretungsverbot“ ausgesprochen.
Aus Gründen der Gefahrenabwehr hat die Stadt ein „Betretungsverbot“ ausgesprochen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Die meisten sind wieder zuhause. Deren Boden sei standfest, so ein Gutachten, das die Stadt Anfang Januar in Auftrag gegeben hatte. Der Dauerregen der Weihnachtszeit habe die Schäden ausgelöst sowie der Anstieg des Grundwassers, das hier immer schon hoch steht. Zudem hätten einzelne Pumpen von Hausbesitzern nicht nur Wasser, sondern auch Sediment abgepumpt, lockeres Erdreich. Das alles habe zu unterirdischen Hohlräumen geführt, die die Standsicherheit einzelner Gebäude gefährdeten.

Selbst mit schuld also? Hier glaubt das keiner. Daniel Liebendahl ist ihr Experte und Mit-Sprecher der Interessensgemeinschaft, die gerade entsteht: Denn der Mann hat nebenan in Kamen selbst eine Firma für Gebäudesanierung, ist spezialisiert auf Brandschäden und - Wasserschäden. „Ich komme aus der Branche und kann Gutachten lesen“, sagt er: „Hier fehlen Dinge, die der Wahrheitsfindung dienen.“

Nach dem 30. Dezember sind neue Schäden hinzugekommen

Einen dicken Ordner haben die Menschen zusammengetragen in den neun Wochen seit der Evakuierung. Alte und neue Fotos, Luftbilder, Karten. Auf einer Höhenkarte von 1954 ist das in den 70er-Jahren bebaute Gebiet ein Loch. Andere zeigen: Ein Bach fließt ganz in der Nähe, mehrere Entwässerungsgräben ziehen sich unter der Erde hindurch. Ein einziges Feuchtgebiet. „Vielleicht hätte hier nie gebaut werden dürfen“, glaubt Liebendahl.

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Auf einer Liste in dem Ordner sind Schäden vermerkt, die in der Siedlung erst nach dem 30. Dezember aufgetreten sein sollen. Haarrisse, Risse, Absenkungen. Andere sehen: Plötzlich klemmt ein Garagentor. Plötzlich ist ein Fenster verzogen. 30 bis 35 Leute werden sich wohl der Interessensgemeinschaft anschließen. Sie kann einen Anwalt engagieren, und der hätte anders als Privatleute Zugriff auf die Akten und Unterlagen der 70er-Jahre, als das Wohngebiet entstand. „Es wird irgendjemand am Ende des Tages dafür geradestehen müssen.“

Stadtwerke kontrollieren jeden Tag, ob die Gasleitung dicht ist

Daniel Liebendahl: „Durch diesen Riss können Sie einen Zollstock von außen nach innen schieben.“
Daniel Liebendahl: „Durch diesen Riss können Sie einen Zollstock von außen nach innen schieben.“ © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Die Straße selbst, wo alles begann, sie liegt an diesem Morgen im Sonnenlicht, aber es scheint auch auf viel Rot-weißes. Schrankenzäune, Absperrpfosten, Verbotsschilder. „Fußgänger bitte andere Straßenseite benutzen.“ Die Häuser haben flexible Anschlüsse mit Außenabsperrhahn bekommen, falls es mal wieder heißt: Alles raus! Täglich kommen die Stadtwerke gefahren und kontrollieren, ob aus der unterirdischen Leitung Erdgas austritt. Denn das Erdreich macht ja vielleicht nochmal, was es will. „Stadtwerke und Gelsenwasser haben hier einen Super-Job gemacht“, sagt der Fachmann Liebendahl.

Das Ehepaar wohnt nun bei der erwachsenen Tochter. Der Sohn bei der Freundin. Die alten Leute in einer eigenen Wohnung. Für die Schwiegereltern, die hier 1976 bauten und einzogen und denen nun ein sterbendes Haus gehört, geht es um eine Entschädigung - eine Elementarversicherung mit weiteren Zusatzversicherungen haben sie, denn Wasserschäden gab es hier schon früher.

„Sobald ich auf das Grundstück kann, mache ich einen Aushub“

Sachverständige werden kommen, Versicherungsvertreter, Bodengutachter. „Sobald ich auf das Grundstück kann, mache ich einen eigenen Aushub“, sagt Liebendahl:„Wo sind Hohlräume, wann kommt Wasser?“ Jahre wird es dauern, aufzuklären, warum die Erde unter Unna in diesem Bereich ruckelte.

„Ich möchte eine Ursache haben, ich möchte eine Maßnahme haben, damit die Leute hier in Ruhe leben können“, sagt der 44-Jährige Unneraner. Die allgemeine Stimmung beschreibt er so: Wenn die Menschen im Bett liegen, und es knackt irgendwas, und sei es noch so harmlos, „dann haben die sofort den Koffer in der Hand und sind weg“.