Essen. Schnäpse haben im Ruhrgebiet lange Tradition. Hochprozentiges mit kuriosen Namen findet immer Freunde. Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt.
Wer zu viel vom Haldengeist intus hat, sieht den berühmten Mond von Wanne-Eickel unter Umständen doppelt. Wonnige Gefühle verspricht hingegen die „Rote Barbara“. Weiter westlich, in Oberhausen, muss mit 40-prozentigem, freundlichen Artilleriefeuer gerechnet werden. Pottkraut gibt es dort auch – als Kräuterlikör mit Revier-Bezug, nicht als Reflex auf die Freigabe von Cannabis. Dieser stocknüchtern entstandene Text will sagen: Im Ruhrgebiet rauschen nicht nur Pils und Korn durch die durstigen Kehlen. Mehr und mehr beliebt sind aromatische Schnäpse und Kräuterliköre.
Vor Ort destilliert, mit Pflanzenextrakten, Früchten, Karamell, Kaffee, Lakritz und vielen anderen Zutaten je nach Geschmacksrichtung verfeinert. Mit Namen, die sich einprägen: Muckefuck – aus Crange – klingt doch viel besser als die langweilige Bezeichnung Kaffeelikör.
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Ein Schnäpschen gab es gratis
„Nichts ist so schön wie der Mond von Wanne-Eickel“ trällerte in den frühen 1960er Jahren Friedel Hensch mit ihren Cypries. Der Tango von den magischen Nächten am Kanal rückte die damals noch selbstständige Bergbaustadt bundesweit ins Licht, die bis dato wohl nur durch die berühmte Cranger Kirmes bekannt war, eine der größten ihrer Art überhaupt. Oder durch den oft bemühten Witz, dass Wanne-Eickel die deutsche Übersetzung von Castrop-Rauxel sei, was ja irgendwie altrömisch klingt.
Jedenfalls ist der Mond über und in Wanne-Eickel allgegenwärtig, im von Prinzipal Christian Stratmann gegründeten Mondpalast und auch in der Destillerie Eicker&Callen – Alte Drogerie Meinken direkt am Cranger Tor, dem Zugang zur Kirmes. Marco Schroeder, an diesem Standort die rechte Hand von Firmenchef Peter Meinken, gerät ins Schwärmen, wenn er vom alljährlichen Riesenrummel im August spricht. „Von den vier Millionen Besuchern, die pro Jahr kommen, machen viele bei uns halt und trinken was.“
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Er denkt gern an die Zeit zurück, als es in den Drogerien alter Prägung noch ein Schnäpschen gratis gab. Payback mal anders. Die offene, freundschaftliche Atmosphäre dort gefiel ihm: „So wurde ich vom Kunden zum Angestellten.“
Zu jedem Hochprozentigeneine nette Geschichte
Zu fast jeder der über 50 verschiedenen Spirituosen in der Alten Drogerie hat Schroeder eine Story parat. Zum Birnenschnaps Wanner 8er, der zu Ehren der Wanne-Eickeler Gold-Ruderer der Jahre 2002 und 2006 kreiert wurde, oder zur „Roten Barbara“, einem Erdbeer-Rhabarber-Likör. „Wir haben ihn nach einer Mitarbeiterin benannt, die ihre Haare stets rot gefärbt hatte. Natürlich auch nach der Schutzheiligen der Bergleute.“
Die Rezepte für den berühmten Mond von Wanne-Eickel – Apfel und Birne auf Weizenkorn – und alle anderen Lebenswässerchen werden sorgsam gehütet. Die markante Glasflasche, dem Mann im Mond nachempfunden, ist ein Hingucker. Hingegen verdankt der Püttmann seine Existenz der Tatsache, dass die Kumpel unter Tage keinen Alkohol trinken durften und statt dessen Lakritze gegen den Staub lutschten. So wanderte das Lakritz in die Flasche und wurde zum Freizeit-Getränk: „Das Rezept“, so Marco Schroeder, „ruht im Tresor. Wie alle anderen auch.“
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Haldengeist, wie der Kohlenjung ein Kräuterlikör, erinnert ebenso an die Bergbautradition wie die alte Williamsbirne Dreischlag, die sich auf die prägenden Industrien im früheren Wanne-Eickel bezieht: Schifffahrt am Kanalhafen, die Eisenbahn mit dem riesigen Rangierbahnhof. Und natürlich die Zechen. Eine alkoholische Zeitreise.
Artilleriefeuer für die Bundeswehr
Nur der Name klingt martialisch. Dabei ist Artilleriefeuer aus dem Oberhausener Osten keinesfalls kriegerisch, sondern ein äußerst gefragter Fruchtlikör auf Sauerkirschbasis mit feuriger Note. Und zu Kaisers Zeiten, genau 1906 durch die Firma Krebber gegründet, was gängige Empörungsrituale ad absurdum führt. Mit seinem 40-prozentigen Alkoholgehalt kann Artilleriefeuer einige Umdrehungen mehr als andere Spirituosen aufweisen und somit durchaus versöhnlich wirken. Und entspannend. Firmen-Mitbegründer Edmund Wollberg (92), der 1967 die Rechte an der Marke erwarb, erzählt uns die Geschichte vom Wirt der früheren Gaststätte namens Artilleriefeuer, der seine Gäste nach dem dritten Trunk erst einmal vor die Tür schickte. Nur wer geraden Schrittes und im aufrechten Gang wieder hereinspazierte, bekam noch einen Schnaps.
Heute ist Artilleriefeuer bestens bekannt, steht bei vielen Getränkemärkten, Groß- und Einzelhändlern im Regal. „Wir haben viele Fans in ganz Deutschland und darüber hinaus. Sogar aus einer Kneipe in Texas kam mal eine Bestellung“, berichtet Kirsten Wollberg aus der Eignerfamilie. Auch Artillerie-Garnisonen der Bundeswehr bestücken regelmäßig ihre Kasinos und Kantinen mit dem Spezialgetränk aus Oberhausen. Als deutsche Soldaten in Afghanistan Dienst taten, wurde auch von dort geordert.
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Immer beliebter im umfangreichen Wollberg-Sortiment wird Pottkraut, ein Kräuterlikör nach alter Rezeptur. Stefan Wollberg: „Den Namen haben wir gewählt, um die Identifikation mit dem Ruhrgebiet zu stärken.“
Namen wider den tierischen Ernst
Der Bogen der originellen Namen lässt sich beliebig weiter spannen. Aus Duisburg, bis 1994 Standort der traditionsreichen Wacholderbrennerei Claus, kommt ein Gin namens Humulupu. Wohlbekannt ist der Killepitsch aus Düsseldorf, ein Kräuterlikör mit 43 Alkoholprozenten und somit ein stärkeres Kaliber. In Kerken am Niederrhein bieten die drei Brüder Looschelder Brüdergeist und Tante Dele an. Ob Kehlenschneider, Vampirjäger oder Schlickrutscher – allesamt Schnapsnamen wider den tierischen Ernst. Einen Kräuterlikör Erichs Rache zu nennen und das Etikett mit dem Porträt des ehemaligen DDR-Staatsratsvorsitzenden zu versehen, trägt sogar satirische Züge. Passend zum Karneval.
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