Witten. . Der Historiker Ralph Klein wollte wissen: Wer hat vor 80 Jahren Wittens Synagoge angesteckt? Im Stadtarchiv sprach er über den Novemberpogrom.

Ralph Klein hat ein Buch über die Menschen geschrieben, die während der NS-Zeit im sogenannten Tränenkeller des damaligen Schillerlyzeums (heute Schiller-Gymnasium) misshandelt wurden. Der Wittener Historiker forschte zur Geschichte des Außenlagers des Konzentrationslagers Buchenwald in Annen. Jetzt hat Klein die Ereignisse des 9. und 10. Novembers 1938 in Witten – den Novemberpogrom vor 80 Jahren – untersucht. „Ich wollte wissen, wer eigentlich die Synagoge in Brand gesteckt hat“, erklärte der 63-Jährige am Donnerstagabend im Stadtarchiv, wo er hierüber einen Vortrag hielt.

Für sein neues Buch „Der Novemberpogrom 1938 in Witten“ hat Ralph Klein rund neun Monate recherchiert, Quellen studiert – nicht nur im Wittener Stadtarchiv, sondern auch im Landesarchiv NRW in Münster und Duisburg sowie im Bundesarchiv in Koblenz. „In Witten wurden außer der Synagoge mindestens 23 Wohnungen und zehn Geschäfte zerstört, mindestens 18 Jüdinnen und Juden misshandelt“, so der Historiker. Im November 1938 hätten 250 bis 300 Juden in Witten gelebt. Ab dem 10. November seien mindestens 27 jüdische Männer in der Stadt verhaftet worden, von denen mindestens 13 in Konzentrationslager gebracht wurden.

Die Hetzrede des Reichspropagandaministers

Der Auslöser für die sogenannte „Reichskristallnacht“: Vor 80 Jahren, am 9. November 1938, starb der deutsche Diplomat Eduard vom Rath an den Folgen eines Anschlags in Paris. Der Attentäter Herschel Grynszpan war erst 17. Ein in Hannover geborener Jude mit polnischer Abstammung. Grynszpan behauptete nach seiner Festnahme, dass er mit seinen Schüssen auf vom Rath ein Signal an die Welt geben wollte. Einige Tage vor dem Anschlag hatte der 17-Jährige von der Deportation seiner Familie aus Hannover nach Polen erfahren.

Reichspropagandaminister Joseph Goebbels gab in München mit einer antisemitischen Hetzrede, in der er die Juden generell für den Tod des Diplomaten verantwortlich machte, das “Signal zum Losschlagen“. Anwesende SA-Führer seien aufgefordert worden, in ihren jeweiligen Befehlsbereichen die SA zu antijüdischen Ausschreitungen gegen Synagogen und Geschäfte jüdischer Eigentümer zu veranlassen, so Ralph Klein. „Überall in Deutschland wurden Synagogen niedergebrannt, Juden misshandelt und getötet. Wohnungen und Geschäfte jüdischer Eigner wurden zerstört, tausende Juden verhaftet.“

Wittener Synagoge vor Brand zweimal geschändet

Auch in Witten kam es zu Gewaltexzessen, die, wie der Historiker betonte, einen Vorlauf hatten. Am 28. Oktober 1938 habe die Wittener Polizei – soweit bekannt – 16 polnische Juden abgeholt, die nach Polen deportiert wurden – darunter Jakob, Hinda, Jetty und Ruth Goldmann, die im Haus Hauptstraße 6 lebten. Klein: „Die Deportationen gingen in aller Öffentlichkeit vor sich.“ Und: Die an der Breite Straße/Ecke Kurze Straße (heute Synagogenstraße) gelegene, 1885 errichtete Synagoge sei schon im Oktober 1938 und am 5. November 1938 aufgebrochen, geschändet und demoliert worden.

Der 9. November 1938, ein Mittwoch, sei ein Arbeitstag gewesen, aber auch ein Feiertag. Es fanden deutschlandweit Gedenkfeiern zu Ehren der sogenannten „Blutzeugen“ statt. Gemeint waren damit die 16 Nationalsozialisten, die beim gescheiterten Hitler-Putsch im November 1923 in München starben. In Witten gab es am 9. November deswegen Gedenkfeiern der NSDAP-Ortsgruppen. SA-Männer hätten auch im Jungengymnasium (heute Ruhr-Gymnasium) direkt gegenüber der Synagoge gefeiert. Die Feiern in der Stadt seien gegen 22 Uhr beendet gewesen. Klein: „Ich gehe davon aus, dass SA-Männer, die an der Gedenkfeier in der Aula des Gymnasiums teilnahmen, in die Stadt zogen und mit den Angriffen begannen.“ In der Stadt seien randalierende SA-Rollkommandos unterwegs gewesen, „die antisemtische Hass-Gesänge grölten“.

Für die Brandstiftung gab es keine Augenzeugen

Ralph Klein zitiert in seinem Buch Aussagen des Kaufmanns Wilhelm Methler, der gegen Mitternacht nach Hause gekommen war. Er lebte im Haus Bahnhofstraße 22/Ecke Beethovenstraße und berichtete: „Die Kolonnen“ seien von unten die Bahnhofstraße hinauf gekommen. „Wir hörten dann auch schon Fensterklirren.“ Die Wohnung seiner Nachbarn Rosenberg, die in der Bahnhofstraße 17 lebten, sei „kurz und klein“ gehauen worden.

Nach vielen übereinstimmenden Erinnerungen sei gegen 0.30 Uhr am 10. November 1938 beobachtet worden, dass die Wittener Synagoge in Flammen gestanden habe. Die Synagoge sei durch einen SA-Trupp in Brand gesetzt worden, so Klein. Die Wittener Feuerwehr habe keine Anstalten gemacht, die lodernden Flammen zu bekämpfen. Sie habe nur die umliegenden Gebäude geschützt. Die Feuerwehr habe dann doch noch die Wasserschläuche auf die brennende Synagoge gerichtet, „aber erst, als sie so gut wie ausgebrannt war“, wie laut Klein ein Feuerwehrmann rückblickend meinte.

Die Wittener Polizei habe an der brennenden Synagoge lediglich Sperren errichtet, um Schaulustige zurückzuhalten. Für die Brandstiftung habe es keine Augenzeugen gegeben. Führer der Wittener SA sei im November 1938 SA-Obersturmbannführer Gustav Honsberg gewesen. Dieser trage „qua Amt“ die Verantwortung für die Brandstiftung.

Jüdisches Ehepaar Rosenthal musste sich ausziehen

In Annen hätten die Angriffe auf jüdische Bürger zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens begonnen. Scheiben von Geschäften in der Bebelstraße seien eingeschlagen worden. Gegen vier Uhr morgens hätten SS-Männer dort in den Wohnungen von Siegmund und Elise Rosenthal und Joseph und Else Rosenthal gewütet. Fünf SS-Männer hätten das Ehepaar Joseph und Else Rosenthal gezwungen, mit ihnen hinaus in die Nacht zu gehen. Dort sei das Paar mit Spazierstöcken verprügelt worden und hätte sich ausziehen müssen.

Sowohl das Diakonissenhaus wie auch das Marien-Hospital hätten die Aufnahme der Schwerverletzten abgelehnt. Schließlich habe sich ein Arzt des Marien-Hospitals erweichen lassen, berichtete Ralph Klein während seines Vortrags. In der Wittener Innenstadt habe ein Polizist den jüdischen Kaufmann Theodor Katz, der in der Steinstraße lebte, davor bewahrt, auf einem Scheiterhaufen verbrannt zu werden. Auch in Rüdinghausen und Herbede sei es zu Ausschreitungen gekommen.

Vereidigung der SS-Männer bis ein Uhr nachts

Witten sei in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 auch Schauplatz eines SS-Spektakels gewesen. Am Rathaus hätte sich deswegen eine große Menschenmenge versammelt. Denn auf dem heutigen Rathausplatz, der damals Adolf-Hitler-Platz hieß, seien ab Mitternacht 116 SS-Anwärter vereidigt worden – Männer aus Witten, Bochum, Wattenscheid, Wanne-Eickel und Herne. Diese hätten ihren Treueeid auf Adolf Hitler ablegen müssen. Daran hätten alle 120 SS-Männer Wittens teilnehmen müssen.

Laut Klein war die Vereidigung um ein Uhr nachts beendet. Nach der Vereidigung habe der Wittener SS-Sturmführer Gustav Bisping die SS-Männer aufgefordert, sich nach dem Tod des Diplomaten Eduard vom Rath an den „Vergeltungsaktionen“ zu beteiligen. Einen direkten Befehl habe er jedoch nicht gegeben.

Ralph Klein: „Die Namen der einzelnen Pogromtäter werden sich nicht mehr herausfinden lassen. Die meisten Gewalttaten des 9. und 10. Novembers 1938 wurden nicht geahndet.“

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Der Vortrag von Ralph Klein zum Novemberpogrom 1938 soll wiederholt werden. Am Donnerstagabend mussten Interessierte leider abgewiesen werden, weil der Nutzerraum des Stadtarchivs voll besetzt war. Leiterin Dr. Martina Kliner-Fruck: „Wir werden den neuen Termin bekannt geben, wenn wir ihn haben.“

Ralph Kleins Buch „Der Novemberpogrom 1938 in Witten“, Wittener Hefte für Stadtgeschichte, Verlag De Noantri, 84 Seiten, bekommt man für fünf Euro im Stadtarchiv und in der Buchhandlung Lehmkul (Marktstr. 5).