Ruhrgebiet. Seilbahnen ganz ohne Berge? Was Herne, Duisburg, Bochum und Essen planen, könnte den Nahverkehr in NRW revolutionieren. Aber hat das auch Sinn?
Den Zustand der öffentlichen Toiletten im Eickeler Park haben sie zuletzt diskutiert, eine bestimmte beschädigte Baumscheibe sowie die Aufstellung von Fahrradständern - was mühelos beweist: Niemand ist so nah an den Leuten wie die Bezirksvertretung. Doch jetzt ist da diese Sitzungsvorlage 2023/0977. Ihr Titel: „Urbane Seilbahn.“ Hoppla!
Und zwar zu errichten zwischen dem Hauptbahnhof Wanne-Eickel und dem zu entwickelnden Technologie-Gelände „Techno Ruhr International“, vormals bekannt als „General Blumenthal IX“. 3500 Leute sollen hier eines guten Tages arbeiten - und möglichst nicht mit dem Auto kommen. Man sieht es schon: Das Thema Seilbahn hat ein gewisses utopisches Potenzial. Auch wenn Hernes Oberbürgermeister Frank Dudda (SPD) in der besagten Sitzung sagt: „Es ist ein Experiment, aber kein Blindflug.“
„Ein nachhaltiges, zuverlässiges und geräuscharmes Verkehrsmittel“
Tatsächlich denken viele Städte im Ruhrgebiet und überhaupt in NRW gerade an eine Seilbahn, das bewegt sich irgendwo zwischen Gedankenspiel und Machbarkeitsstudie. Und zwar an eine Seilbahn nicht als touristische Attraktion wie in den Alpen oder über dem Rhein, sondern eingebunden in den öffentlichen Nahverkehr - man könnte sie dann nutzen mit dem Deutschlandticket und jedem anderen normalen Fahrschein.
Der Eifer hat Gründe. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) spricht von Seilbahnen als „wichtigem Zukunftsthema“. Ausländische Beispiele in dicht besiedelten Regionen zeigen demnach, dass sie „ein nachhaltiges, zuverlässiges und geräuscharmes Verkehrmittel“ seien. In Singapur etwa oder La Paz. Sein Ministerium hat jedenfalls schon eine 124-seitige Handreichung für Kommunen und Verkehrsunternehmen aufgeschrieben, wie man sich dem Thema professionell nähert.
Die Wohnbebauung ist ein großes Hindernis
Neben den freundlichen Worten und der umfangreichen Anleitung gibt es noch ein stärkeres Argument: Seilbahnen stehen jetzt im „Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz“. Im Klartext: Sie sind förderfähig. Herne baut, der Bund zahlt. Falls.
Herne hat es zumindest entschlossen vor in Wanne-Eickel, ausgerechnet der früheren „Stadt der 1000 Güterzüge“. Und die anderen Kommunen sind auch nicht weiter. Vielleicht noch Duisburg: Dort denken sie an eine Trasse, die vom Hauptbahnhof aus in Richtung Sportpark Wedau und einige Neubaugebiete führt. Viele Duisburger würden sich das wünschen, sie stehen mit ihren Autos wegen mehrerer Großbaustellen in diesen Wochen sehr viel im Stau. Sehr viel. „Seilbahn? Wahnsinn, aber das ist Duisburg“, sagt ein Passant.
Bochum hat an eine Trasse zwischen Ruhr-Universität und dem Gelände Mark 51’7 nachgedacht, der alten Opelfläche, wo viele neue Firmen bauen - doch es gäbe wohl nicht genügend Fahrgäste für einen ständigen Pendelverkehr. Essen hat Trassen zwischen Zollverein und der Innenstadt prüfen lassen. Die untersuchten Korridore „sind durch die Prüfung gefallen“, so Richard Röhrhoff, Geschäftsführer von „Essen Marketing“. Das Hindernis: die vorgeschriebenen Abstände zur Wohnbebauung. Der Bund wolle aber auch das neu regeln.
Anlieger fürchten um ihre Privatsphäre
Auch Köln und Bonn befassen sich mit dem (für Deutschland) neuartigen Nahverkehrsmittel: In Köln würde es den Rhein mehrmals überqueren („Rhein-Pendel“), in Bonn ein Viertel ansteuern, das an Autos erstickt. In einer positiven Stellungnahme der Bonner Industrie- und Handelskammer taucht dann jedoch das Problem auf, welches alle Seilbahnen in großen Städten haben: „Privatgrundstücke sind in Bonn nicht unmittelbar durch Überschwebung betroffen.“
Denn der Feind wohnt unten: die Leute, die nicht überschwebt, die sich nicht in die Gärten, Wohnungen und Balkone blicken lassen wollen. Daran ist bereits die Wuppertaler Seilbahn gescheitert, die in dieser Stadt mit ihrem ständigen Rauf und Runter sinnvoll gewesen wäre (und ja auch die Schwebebahn erträgt). Aber im Bürgerentscheid von 2019 setzten sich die Gegner durch mit den Argumenten: Die Kosten. Die Privatsphäre. Der Wertverlust der Häuser und Grundstücke. Im Ruhrgebiet ist die Auseinandersetzung noch nicht ausgebrochen, weil der exakte Verlauf von Trassen nicht klar ist.
Herne hat bereits die Überflugrechte über das Bahngelände
Techniker sagen freilich, der neugierige Blick aus der Seilbahn ins Privatleben lasse sich durch Höhe, Abstand und Sichtschutz verhindern. In Herne wäre das eh nicht das Problem: Ein großer Teil der Seilbahnstrecke führt über die riesigen Gleisanlagen des Hauptbahnhofs Wanne-Eickel, der früher sehr wichtig war im Güterverkehr des Ruhrgebietes. Und ja, die Überflugrechte über die Gleise hat die Stadt bei der Deutschen Bahn bereits herausgehandelt.
Bezirksvertretungen und mehrere Fachausschüsse in Herne haben dem Projekt inzwischen zugestimmt. Im Rat ist das Thema Ende Oktober. Und dann geht der mühevolle Prozess erst richtig los, ein Großprojekt ans Laufen zu bringen: Planfeststellung, Vergabeverfahren, formelle standardisierte Bewertung der Wirtschaftlichkeit. Frank Dudda, der Oberbürgermeister, erwartet die fertige Seilbahn frühestens für Ende des Jahrzehnts. Und dann gibt es noch eine andere Beteiligte, die der Seilbahn im Weg hocken könnte und die eine Politikerin in der Bezirksvertretung bereits ansprach: die „planungsrelevante Kreuzkröte“.