Essen. 1997 wurde bei Peter S. Krebs entdeckt. Die Prognose war schlecht – und die Radioligandentherapie, die ihn nun hoffen lässt, noch nicht erfunden.

Fünf Jahre, fürchtete Peter S., blieben ihm nur noch, „vielleicht sechs.“ Das war 1997, als bei ihm ein Prostatakarzinom entdeckt wurde. Heute, 26 Jahre später, sagt der Mann aus Kaarst: „Ich bin ein glücklicher Patient“ – und er meint es genau so. Der 81-Jährige weiß, dass seine Erkrankung nicht mehr geheilt werden kann. Aber es geht ihm gut damit – und er ist sich sicher, dass das so bleiben wird, dass er trotz Krebs vielleicht sogar 100 werden kann, „wie meine Mutter“. Peter S. vertraut dabei auf seine Ärzte am Essener Uniklinikum – und eine neue „Radioligandentherapie“. Erst seit Ende 2022 ist sie zugelassen.

Zum Arzt ging Peter S. 1997, weil er öfter als früher „musste“. „Sitzungen hab ich wegen Harndrangs verlassen, bei Spaziergängen stand ich ständig am Baum“, erinnert sich der Jurist. Andere Beschwerden habe er nicht gehabt. Der Urologe stellte fest, dass der PSA-Wert, ein Tumormarker, stark erhöht war. Es folgten weitere Untersuchungen, dann die Diagnose: Prostatakrebs – ein Schock für den vierfachen Vater und seine Frau. Peter S. wurde die Prostata – eine kleine Drüse unterhalb der Blase – umgehend entfernt. Seine Frau und er beschlossen, die ihnen noch verbleibende gemeinsame Zeit so gut wie möglich zu nutzen.

Prostastakrebs: Operation, Hormontherapie – und der PSA-Wert stieg trotzdem

Für zwei Tage wird der Patient in der Klinik für Nuklearmedizin der Essener Uniklinik für die Radioligandentherapie „kaserniert“, wie Peter S. sagt, Besuche sind nicht erlaubt. Die eigentliche Therapie dauert nicht einmal eine Stunde, aber die Radioaktivität des Wirkstoffs muss abklingen.
Für zwei Tage wird der Patient in der Klinik für Nuklearmedizin der Essener Uniklinik für die Radioligandentherapie „kaserniert“, wie Peter S. sagt, Besuche sind nicht erlaubt. Die eigentliche Therapie dauert nicht einmal eine Stunde, aber die Radioaktivität des Wirkstoffs muss abklingen. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

„Aber es war eine schwere Zeit“, sagt der 81-Jährige, ein begeisterter Wanderer und Orchideensucher. „Ich war nicht mehr so leistungsfähig und meine Frau kam damit zunächst nicht gut zurecht.“ Es fanden sich Mittel und Wege, das Paar entwickelte eine „gute Resilienz“ („Was nicht ist, ist eben nicht“) – und drei Monate später war Peter S. wieder zurück im Job. Ein Jahr später war der PSA-Wert so hoch wie vor der OP... S.s Ärzte in Aachen starteten eine palliative Hormontherapie. Sie half, doch die Knochen litten, Peter S. bekam Osteoporose, eine typische Nebenwirkung.

Es folgte eine Therapiepause, dann erneut eine Hormontherapie – der PSA-Wert wuchs dennoch in nie gekannte Höhen. „In Amerika kann man Ihnen nun vielleicht noch helfen“, sagte der Arzt 2016... Peter S. machte einen Termin an der Uniklinik Essen. Denn bei seinen Recherchen im Internet war er auf einen Bericht über das neue PSMA-PET/CT, ein innovatives Bildgebungsverfahren (siehe Infobox am Ende des Artikels) gestoßen, in Essen war eine solche Untersuchung möglich. Sie zeigt genauer als die bis dahin genutzten Verfahren (CT, MRT, Knochenszintigrafie), wo der Krebs steckt, wohin er gestreut hat. Bei Peter S. „leuchtete“ es an vielen Stellen, sehr hell. Sein Krebs schien tatsächlich nicht mehr aufzuhalten zu sein.

Radioligandentherapie: „Eine unglaubliche Bereicherung der Optionen“

Prof. Boris Hadaschik, heute Direktor der Klinik für Urologie und Leiter des Uroonkologischen Zentrums der Essener Universitätsmedizin, hat in Heidelberg an der Entwicklung von PSMA-PET/CT und der daraus entwickelten „Radioliogandentherapie“ mitgearbeitet. Radioaktive Strahlung wird dabei in die Krebszellen transportiert, sie zerstört sie von innen heraus – eine „unglaubliche Bereicherung der Therapieoptionen“, sagt Hadaschik. Doch 2016 stand sie noch nicht zur Verfügung. Peter S. erhielt eine weitere Hormontherapie und 40 Bestrahlungen, „so belastend, dass ich sie beinahe abgebrochen hätte“. Sein PSA-Wert verdoppelte sich in den folgenden zwei Jahren dennoch ungerührt.

2018 schlug Hadaschik seinem Patienten die Teilnahme an einer Studie vor, in deren Rahmen die Radioligandentherapie (RLT) weiter erforscht werden sollte. S. willigte ein, zunächst zögerlich. „Die Therapie steckte ja noch sehr in ihren Anfängen. Aber ich hatte gelesen, dass die Heidelberger Forscher dafür einen Preis erhalten hatten“.

Uniklinik Essen: „Wir geben der Strahlung eine Postleitzahl mit auf den Weg“

Vier Zyklen RLT wurden ihm zunächst verordnet, mit jeweils zwei Monaten Abstand. Für zwei Tage wurde Peter S. dazu in der Klinik für Nuklearmedizin des Uniklinikums „kaserniert“, wie er sagt, stationär abgeschottet. „Die eigentliche Therapie besteht aus einer Infusion (mit dem radioaktiven Lutetium-177.) in die Armvene“, erläutert der Klinik-Direktor und Krebsexperte Prof. Ken Herrmann. „Dauert nicht einmal eine Stunde – und man merkt nichts davon“, berichtet Peter S. Die im Vergleich zu Chemotherapie oder Bestrahlung relativ gute Verträglichkeit sei einer der Vorteile der RLT, so Herrmann. Wichtiger aber noch: Die Methode wirke gezielt, „wir bestrahlen genau da und nur da, wo es nötig ist; wir geben der Strahlung sozusagen eine Postleitzahl mit auf den Weg“. Nach zwei Zyklen stand eine erste ausgiebige Kontrolluntersuchung an: Und bei Peter S. hatte sich deutlich erkennbar etwas verändert – zum Guten. Sein PSA-Wert war endlich gesunken – und im PET/CT „leuchtete“ es sehr viel weniger stark als zuvor. „Das hat mir soviel Mut gemacht“, sagt S., und Herrmann ergänzt: „Viele Patienten schöpfen aus diesen schnellen Erfolgskontrollen große Kraft!“

Prof. Boris Hadaschik kam 2017 vom Heidelberger Universitätsklinikum nach Essen. In Heidelberg wurde die Radioligandentherapie entwickelt, er war der „Verbindungsoffizier zwischen Urologie und Nuklearmedizin“.
Prof. Boris Hadaschik kam 2017 vom Heidelberger Universitätsklinikum nach Essen. In Heidelberg wurde die Radioligandentherapie entwickelt, er war der „Verbindungsoffizier zwischen Urologie und Nuklearmedizin“. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Rund 1000 Männer erhielten am Essener Uniklinikum inzwischen eine Radioligandentherapie, etwa 350 sind es derzeit im Jahr. Andere Kliniken bieten die Methode inzwischen auch an, Essen zählt neben München zu den größten Anbietern in Deutschland. Herrmann und Hadaschik rühmen die interdisziplinäre Zusammenarbeit, die den Erfolg möglich gemacht habe. Peter S. sei zwar ein „Star-Patient“, aber vielen anderen konnte ebenso geholfen werden. „Zwei von drei haben einen Vorteil“, betont Herrmann. Beide Mediziner verstehen die Radioligandentherapie zudem als „Plattformtechnologie“, klinische Studien zum Einsatz bei Darm- und Brustkrebs oder Lymphomen gebe es bereits. „Das Ende der Fahnenstange ist noch keineswegs erreicht“, glaubt Hadaschik.

„Mein Horizont hat sich wieder erweitert“

Nach sechs Zyklen beendete Peter S. Anfang 2022 seine RLT, die Metastasen hatten sich zurückgebildet, der PSA-Wert war auf Rekord-Wert gesunken – und er sank nach dem Ende der Therapie sogar weiter. Peter S. war so dankbar, dass er der Uniklinik Essen einen großen Teil einer kleinen Erbschaft spendete, „um die Radioligandentherapie weiter voranzutreiben“, sagt er. Auch in einer Selbsthilfegruppe engagiert er sich inzwischen, will anderen Betroffenen Hoffnung machen. Er habe den „Jakobsweg“ zusammen mit seiner Frau doch auch noch „geschafft“. 1997 war das eines ihrer gesteckten Ziele.

Als im vergangenen Jahr S.s PSA-Wert wieder zu steigen begann, erhielt er vier weitere Zyklen RLT. Nächste Woche steht die abschließende Kontrolluntersuchung an. S. fürchtet sie nicht. „Ich bin jetzt auf der sicheren Seite“, denkt er, „mein Horizont hat sich wieder erweitert!“ In diesem Jahr geht’s in die Normandie, zum Wandern.

>>>> INFO: Prostatakrebs

Etwa kastaniengroß ist die Vorsteherdrüse, die Prostata (im Modell gelb), in der ein Teil der männlichen Samenflüssigkeit produziert wird. Sie liegt direkt unterhalb der Blase (rot).
Etwa kastaniengroß ist die Vorsteherdrüse, die Prostata (im Modell gelb), in der ein Teil der männlichen Samenflüssigkeit produziert wird. Sie liegt direkt unterhalb der Blase (rot). © Shutterstock / Shidlovski | Shidlovski

Bei mehr als 65.000 Männern wird nach Angaben des Robert-Koch-Instituts Jahr für Jahr ein Prostatakarzinom neu diagnostiziert. Rund 15.000 Betroffene sterben jährlich. Es ist der häufigste Krebs bei Männern und die zweithäufigste Krebstodesursache. Früh erkannt ist dieser bösartiger Tumor an der Vorsteherdrüse gut behandelbar, er wächst langsam. Erste Symptome können Probleme beim Wasserlassen, Blut im Urin oder Sperma, Schmerzen bei der Ejakulation und Potenzstörungen sein. Hat der Prostatakrebs bereits metastasiert, Tochtergeschwülste in Knochen, Leber oder Lunge gebildet, sinken die Heilungs- und Überlebenschancen drastisch. Die Krankenkassen zahlen Männern ab 45 einmal im Jahr eine urologische Früherkennungsuntersuchung – nach Daten der AOK nutzt sie nicht einmal jeder Fünfte. Infos: Deutsche Krebsgesellschaft

>>>INFO: Radioligandentherapie

Die Radioligandentherapie (RLT) beruht auf der Erforschung des Prostataspezifischen Membranantigens PSMA. Dieses Eiweiß lässt sich auf Prostatakrebszellen 1000-mal häufiger nachweisen als auf der Oberfläche von gesunden Prostatazellen. Wissenschaftlern des Deutschen Krebsforschungszentrums und der Universität Heidelberg gelang es 2012, ein Molekül herzustellen, das in der Lage ist, sich an das PSMA anzuheften: den „Liganden“. Koppelt man ihn mit schwach radioaktiven Substanzen wie Gallium-68 (Halbwertszeit: 68 Minuten) lassen sich damit Prostata-Tumoren und -Metastasen im Körper sehr genau nachweisen und darstellen. Die bildgebende Methode, die dazu genutzt wird, heißt: PSMA-PET/CT.

Prof. Ken Herrmann. Direktor der Klinik für Nuklearmedizin am Essener Uniklinikum: „Wir geben der Strahlung eine Postleitzahl mit auf den Weg.“
Prof. Ken Herrmann. Direktor der Klinik für Nuklearmedizin am Essener Uniklinikum: „Wir geben der Strahlung eine Postleitzahl mit auf den Weg.“ © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Koppelt man einen ähnlichen Liganden mit einem deutlich stärker radioaktiven Stoff wie Lutetium-177 (Halbwertszeit: 6,6 Tage) lässt sich Prostatakrebs nicht nur diagnostizieren, sondern auch therapieren, fanden die Heidelberger Forscher später heraus. Der Radioligand wird dem Patienten injiziert, das Lutetium-177 reichert sich im Tumor an, gibt dort gezielt seine tödliche Strahlung ab. Es zerstört sie also von innen heraus. Umliegendes, gesundes Gewebe wird kaum bestrahlt.

Seit Dezember 2022 ist das entsprechende Medikament (Pluvicto, Hersteller ist der Baseler Pharmakonzern Novartis)) für die Behandlung von metastasiertem Prostatakrebs in Europa offiziell zugelassen, bis dahin konnte es nur im Rahmen eines „individuellen Heilversuchs“ oder im Rahmen von Studien eingesetzt werden. Auf dem Europäischen Urologen-Kongress in Madrid im Herbst werden die Essener Forscher ihre Ergebnisse vorstellen. Dabei geht es um eine Erweiterung der Zulassung.

Nicht alle Patienten können mit RLT behandelt werden, die Therapie erfolgt in der Regel nur bei Patienten mit weit fortgeschrittenem Prostatakrebs, der zudem nicht (mehr) auf eine Hormontherapie anspricht, und der auch alle anderen Therapieoptionen bereits ausgeschöpft hat.