Gelsenkirchen. Viele Erdbebenopfer, die in Deutschland untergekommen sind, sollen bald zurückreisen in die Türkei. Doch dort läuft der Wiederaufbau schleppend.

Schuttberge, Containerdörfer und Zeltlager: Im türkischen Erdbebengebiet herrscht noch längst keine Normalität, berichten Helfer und Reporter. Und in drei Monaten beginnt der Winter. Doch Menschen, die in Deutschland bei Verwandten untergekommen sind, müssen wohl bald zurückkehren ins Katastrophengebiet. Denn die Verordnung läuft aus, mit der Schengen-Visa auf sechs Monate verlängert werden konnten. Die Kosten für den Aufenthalt tragen dabei die Verwandten, die für ihre Angehörigen bürgen. Allerdings gibt es noch Spielräume für Land und Kommunen, längere Aufenthalte zu gestatten.

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„Es würde mich freuen, wenn die Regelung doch noch verlängert werden würde“, sagt Abdullah Ören. „Das wäre eine Riesenentlastung.“ Der Gelsenkirchener Immobilienunternehmer war dreimal in der Provinz Kahramanmaraş, um im Landkreis Elbistan zu helfen. „Es geht zwar voran, aber es ist eine Mammutaufgabe“, sagt er. Man müsse an den Winter denken.

Die ersten Notzelte seien längst ersetzt durch deutlich komfortablere. Auch die werden mittlerweile abgebaut, weil nun genug Container vorhanden seien. „Ich glaube aber nicht, dass diese ausreichen würden, wenn nun alle Menschen zurückkehren würden, die bei Verwandten untergekommen sind“, sagt Ören. „Erste Häuser sind ebenfalls fertig, aber auch die decken nur einen Bruchteil ab. Die Behörden bieten darum kostenlose Unterkünfte in anderen Städten an. Aber gerade für Kinder wäre es eine Riesenumstellung gewesen, wenn sie nun von Deutschland in eine weitere fremde Stadt wechseln müssten, bevor sie vielleicht im nächsten Jahr nach Hause zurückkehren können.“

Eine Million Menschen wurden obdachlos

Zwei Erdbeben der Stärken 7,7 und 7,6 hatten am 6. Februar die Südosttürkei und Nordsyrien erschüttert. Nach offiziellen Angaben kamen mehr als 50.000 Menschen allein in der Türkei ums Leben. Nicht nur die Türkische Ärztevereinigung schätzt, dass die tatsächliche Opferzahl deutlich höher sei. Mehr als 300.000 Häuser sind nach offiziellen Angaben nicht mehr bewohnbar, und Millionen Menschen wurden obdachlos. Der Sachschaden beträgt mehr als 100 Milliarden US-Dollar.

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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat versprochen, die elf betroffenen Provinzen schnell wieder aufzubauen. Doch bis heute sind über fünf Millionen Menschen auf direkte Hilfe angewiesen, schätzt die Hilfsorganisation Medico international. Die Aufräumarbeiten liefen schleppend, besonders in Gebieten, wo ethnische oder religiöse Minderheiten leben. Es komme bei der staatlichen Verteilung der Hilfe zu einer strukturellen Diskriminierung zum Beispiel der Kurden, Aleviten, Armenier oder arabischen Christen.

Staub vernebelt die Stadt

Auch in Teilen Antakyas, einer der am stärksten betroffenen Städte, sehe es aus, als wären die Beben vor sechs Wochen und nicht vor sechs Monaten geschehen, schreibt die dpa-Reporterin Mirjam Schmitt: Bagger graben sich in die Häuserruinen und heben Schutt beiseite. Plakate des Kulturministeriums markieren die Gebäude, die historischen Wert haben und restauriert werden sollen. Staub vernebelt die Stadt, legt sich auf die Blätter der Bäume, auf die Haut und dringt in die Nase.

Die, die die Region nicht verlassen haben oder bei ihren Familien auf dem Dorf untergekommen sind, wohnen in Notunterkünften. Kebap-Verkäufer Gani hat sein Zelt hinter seinem Laden errichtet, den er in einen Container verlegt hat. Darauf steht: „Wir waren nie fort… Kebap-Laden“. Ganis Haus wurde zerstört. Er könnte in eine am Stadtrand errichtete Containerstadt ziehen, doch dort gebe es keine Arbeit, sagt der 55-Jährige. Außerdem wolle er sein Viertel nicht aufgeben. Er ist sauer: „Wo ist das Geld, das vom Ausland geflossen ist? Warum sind die Trümmer noch nicht weggeräumt? In drei Monaten ist Winter, wo sollen die Leute unterkommen?“

Fast ein halbes Jahr nach den Beben ist die Altstadt noch geprägt von Trümmerhaufen.
Fast ein halbes Jahr nach den Beben ist die Altstadt noch geprägt von Trümmerhaufen. © dpa | Bradley Secker

Derman Demirkol hat mit ihrer Familie einen Platz in einem Schiffscontainer bekommen. Darin waren vor wenigen Monaten noch Fußballfans abgestiegen. Katar hat die Behausungen nach der Weltmeisterschaft an die Türkei abgegeben. Der Raum, in dem die 37-Jährige mit ihrem Mann und den drei Kindern lebt, ist mit Stockbetten und einem Kühlschrank ausgestattet. Es gibt ein Bad, auch eine Klimaanlage wurde vor Kurzem eingebaut. Nebenan pflanzt die Familie Paprika. Doch das Leben in der Containerstadt kann bedrückend sein. „Wir sind in Antakya groß geworden, unsere ganzen Erinnerungen sind ausgelöscht“, sagt Demirkol.

Die ungeliebte Neubausiedlung

Präsident Erdogan will innerhalb eines Jahres mehr als 300.000 Häuser bauen. Schon Ende des Jahres sollen die ersten Wohnungen an Eigentümer übergeben werden. Tatsächlich stampft die Regierung im Rekordtempo Neubauprojekte aus dem Boden. Rund 15 Kilometer vom Zentrum Antakyas entfernt entstehen mehr als 2000 Wohnungen, nicht höher als vier Stockwerke und erdbebensicher gebaut. Der Boden sei seismisch untersucht worden, und Bauvorschriften würden strikt eingehalten, wie man hier versichert. Die Fundamente sind schon gelegt. Hausbesitzer, die hier eine Wohnung beziehen wollen, bekommen 60 Prozent des Kaufpreises vom Staat, für den Rest sind günstige Kredite vorgesehen. Die, die ihr Haus selbst wieder aufbauen wollen, sollen ebenso Unterstützung erhalten.

Die Angst, dass der Charakter der Stadt und Nachbarschaftsstrukturen verloren gehen, teilen hier viele. „Seelenlos“ ist ein Ausdruck, der bei den Einheimischen oft fällt. Schwierig ist die Situation für Mieter, die zunächst nicht von dem System profitieren. Die Mieten in Antakya und Umgebung sind wie überall im Land gestiegen – nicht beschädigte Wohnungen begehrt. (mit dpa)