Bottrop. Duisburg-Ruhrort soll umweltneutral werden. Dahinter steckt Dirk Gratzel. Er hat Innovation City gekauft und will nun das Ruhrgebiet verändern.
Als Sohn einer Bergarbeiterfamilie will Dirk Gratzel das Ruhrgebiet verändern. Der KI-Unternehmer ist bekannt geworden durch seinen Selbstversuch, umweltneutral zu leben. Daraus ist die Greenzero-Firmengruppe mit Sitz in Aachen erwachsen. Gratzel hat 2022 die Mehrheit an „Innovation City Management“ erworben und will nun Duisburg-Ruhrort umweltneutral umbauen, Bottrop bis 2035 klimaneutral machen und große Industriebrachen als Ökoschulden-Ausgleich zu blühenden Parks machen.
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Warum sind Sie bei Innovation City eingestiegen?
Dirk Gratzel: Global betrachtet sind Städte für drei Viertel aller Umweltwirkungen verantwortlich. Und wenn man schaut, wer hat Kompetenz in der Transformation gewachsener Quartiere, findet man in Deutschland „Innovation City Management“ und dann lange nichts. Meine Unternehmen hatten mit der Stadt Duisburg, dem Duisburger Hafen und der Firma Haniel erste Überlegungen angestellt, das ganze Viertel Duisburg-Ruhrort bilanziell umweltneutral zu gestalten. Es geht dabei nicht nur darum, die Klimagas-Emissionen zu reduzieren, sondern alle Umweltwirkungen zu reduzieren und dieses Quartier zumindest rechnerisch zu nullen. Und dafür brauchten wir genau die Erfahrungen, die bei Innovation City zu finden sind.
Warum Ruhrort?
Auch, weil Haniel dort sitzt, ein Unternehmen, das eine große Verantwortung für den Ort empfindet. Aber Ruhrort ist zugleich übersichtlich und ein gewachsenes Quartier mit Industrie und all den Herausforderungen, die wir aus dem Ruhrgebiet kennen. Im Villenviertel von Köln wäre das Ziel viel einfacher zu erreichen. Aber in Ruhrort haben wir realistische Bedingungen – und wir wollen beweisen, dass dieser Umbau in jedem Quartier funktioniert. Ich glaube, das kann tatsächlich ein Muster für die globale Transformation sein. Wir haben bereits aus vielen anderen Städten Anfragen.
Wie wollen Sie diese Ziele erreichen?
Seit eineinhalb Jahren analysieren wir mit der Stadt und den BürgerInnen welche Umweltkosten wo in Ruhrort entstehen. Strom und Wärme sind Haupttreiber, aber auch Mobilität und privater Konsum, Abwasser und Müll. So sehen wir, an welchen Stellen wir angreifen müssen, um Emissionen zu reduzieren: mit Strom- und Wärme- und Mobilitätskonzepten, gemeinsam mit den Stadtwerken, mit den Wirtschaftsbetrieben und allen, die hier in Verantwortung stehen. Es ist nicht banal, das alles mit den existierenden Planungen und Prozessen zu verschränken und Entwicklungen zu beschleunigen. Schließlich werden wir – egal wie erfolgreich wir sind – feststellen, dass immer noch Umweltwirkungen übrigbleiben. Wenn sie nicht vermeidbar sind, müssen wir sie ausgleichen. Nicht in einem Regenwald, sondern möglichst in Duisburg. Wir wollen also mehr städtisches Grün, mehr grüne und blaue Infrastruktur schaffen, was nicht nur gut ist für die Ökologie, sondern auch für die Lebensqualität.
Es gibt wahrscheinlich viel zu kompensieren, ist in Ruhrort genug Platz?
Das wissen wir noch nicht genau. Wenn wir nur auf Flächen schauen, die für nichts anderes gebraucht werden, könnte es knapp werde. Wir müssen die städtische Struktur mitdenken, also Fassaden, Dächer, Entsiegelungsmöglichkeiten. In Städten gibt es mehr spannende Ökologie, als wir vermuten.
Haben sie Verständnis für Menschen, die sagen, ich kann mir Bio-Fleisch, E-Autos oder Photovoltaik nicht leisten?
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Absolut! Das Erstaunliche in unserer Gesellschaft ist ja, dass das Supermarkt-Schnitzel günstiger ist als das Bio-Schnitzel – obwohl das Supermarkt-Schnitzel für die Gesellschaft viel teurer kommt, wenn man die Umweltschäden einrechnet. So machen wir nachhaltiges Verhalten für den Einzelnen unattraktiver. Und ich verstehe jeden Menschen, der sagt: Wenn ich einkaufen gehe, muss ich mich an meinem begrenzten Budget orientieren. Der Ansatz, dem meine Unternehmung insgesamt folgt, ist ein altes ökonomisches Prinzip: Wir müssen die Umweltkosten zum Produktpreis hinzurechnen. Dann wäre das Bioschnitzel günstiger als das konventionelle.
In Ruhrort leben auch Menschen, denen es finanziell nicht so gut geht. Wie wollen sie zum Beispiel Menschen motivieren, Energie zu sparen, wenn die Energie vom Jobcenter bezahlt wird?
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Es gilt, in Ruhrort auch Wege zu finden, wie man nachhaltiges Tun wirtschaftlich belohnen kann. Daran arbeiten wir mit der Politik. Aber wir Menschen motivieren uns glücklicherweise nicht nur ökonomisch. Wir müssen deutlich machen, dass Nachhaltigkeit auch mehr Lebensqualität bedeutet. Alle möchten in einem Quartier wohnen, das grüner ist, das im Sommer nicht so heiß wird, das nicht unter Wasser steht, wenn es mal regnet, das nicht vermüllt ist. Die wenigsten Menschen, denen wir begegnen, sind so egoistisch, dass sie gar kein Interesse daran hätten, was das eigene Verhalten mit der Gemeinschaft macht.
Ist Innovation City auch international eine Marke?
Ich glaube, was in Bottrop gelungen ist, hat international sehr viel Aufmerksamkeit erzeugt hat – und tut es weiterhin. Wir schreiben die Geschichte mit dem Projekt in Ruhrort fort. In wenigen Wochen präsentieren wir die erste Quartiers-Ökobilanz, die jemals weltweit erstellt worden ist, und das in Duisburg-Ruhrort. In Bottrop geht es ebenfalls weiter. Innovation City hat hier in zehn Jahren die Klimaemissionen halbiert. Nun will die ganze Stadt bis 2035 klimaneutral werden. Die Welt wird ins Ruhrgebiet kommen, um zu sehen, wie urbane Transformation geht.
Was ändert sich bei Innovation City durch die neuen rein privatwirtschaftlichen Besitzverhältnisse?
Wir investieren etliche Millionen in Personalaufbau, aber auch in das Bestandspersonal. Die meisten Auftraggeber sind bisher deutsche Städte, wir möchten aber auch Beratungs- und Transformationsprojekte im Rest von Europa und dann in aller Welt leisten können. Und natürlich gibt es viele private Produktionsstätten oder Bürokomplexe, die wirtschaftliche Komponente kommt durch Greenzero hinzu. So sind wir gerade dabei, die Partnerschaft mit einem großen Ruhrgebiets-Fußballverein zu etablieren. Auch der Fußball ist ressourcen-intensiv: viele Reisen, viele Zuschauer, viele Stadionwürste.
Warum wird in Deutschland nicht stärker auf das Potenzial zugegriffen, dass Innovation City in den zehn Jahren bis 2020 geschaffen hat, zum Beispiel wie man fast flächendeckende Energieberatungen hinbekommt.
Von dem Moment, wo in einer Stadt die Überzeugung wächst, etwas tun zu müssen, bis zu dem Punkt, an dem es umgesetzt wird, vergeht viel Zeit. Es braucht auch Zeit, bis die öffentlichen Förderprogramme neu ausgerichtet sind, und selbst dann kann es dauern. Das sehen Sie am Beispiel der rheinischen Braunkohle: Seit ewigen Jahren stehen 15 Milliarden Euro für Strukturwandel zur Verfügung, und ausgegeben hat man erst ein paar 100.000 Euro. Aber wenn die öffentliche Hand dann arbeitet, tut sie das aus meiner Sicht sehr gründlich, sehr gewissenhaft, sehr präzise. Nur wird die Zeitfrage beim Klimawandel und anderen Nachhaltigkeitsthemen zunehmend zum Problem.
Was kann man bei der Energiewende besser machen?
Wir müssen Genehmigungen beschleunigen und Regulierung verringern. Oft sind es eher die Kleinigkeiten: Wenn der Denkmalschutz einer Dämmung, Dachbegrünung oder Photovoltaikanlage entgegensteht. Ich wohne in einem Haus mit vier Eigentümern – ich habe neun Monate gebraucht, um für mein Elektroauto eine Wallbox zu installieren, und wir reden über eine Steckdose. Ich habe kein Kraftwerk gebaut. In Bottrop haben wir gelernt: Wir sollten uns bemühen, mehr Gebäudeeigentümer, mehr Stakeholder in den Quartieren zu gewinnen. Wir müssen eher auf positive Beispiele setzen und den Mehrwert vermitteln: Warum ergibt es Sinn, dass wir die Luft, den Boden, das Mikroklima, die ganze Art, wie wir in Städten existieren, verändern wollen? Dann haben wir unheimlich viele Förderprogramme. Das ist an manchen Stellen höchst unübersichtlich, bürokratisch, nervig, allemal für einen Privaten – hier braucht es Unterstützung vor Ort. Ich würde auch der Tiefengeothermie ein enormes Potenzial für die Wärmeversorgung von Städten zuweisen wollen.
Ihr Ansatz beschränkt sich nicht auf den Klimawandel.
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Wenn wir nur auf Treibhausgase schauen, treffen wir Entscheidungen, die gut sind, um CO2-Emissionen zu verringern, die aber manchmal ökologische Probleme viel größer machen. Biokraftstoffe oder Biomasse sind solche Beispiele. Zehn Prozent der Fläche in Deutschland werden nur dafür bebaut. Das heißt Flächenverbrauch, Pestizideinsatz, Kunstdünger, ruinierte Böden, Zerstörung der Biodiversität. Darum ist unser Weg: Lasst uns alle Umweltwirkungen in den Blick nehmen, dann trifft man klügere Entscheidungen. Ich bin mir sicher, in Zukunft machen wir Ökobilanzen und keine Klimabilanzen.
Teile der Umweltbewegung betrachten Ökorechnungen skeptisch, weil damit Natur kommerzialisiert wird.
Die Biosphäre ist darum in einem so schlechten Zustand, weil Ökologie lange nichts wert war. Und weil wir der Natur eben keinen Wert zugeschrieben haben, was in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem dringend notwendig ist. Die ideologische Trennung zwischen Ökonomie und Ökologie führt die Ökologie ins Verderben.
Für ihr „HeimatErbe“-Projekt haben Sie schon Industriebrachen gekauft, auf denen sie Kompensation anbieten, etwa in Herten auf Zeche Ewald und in Lünen auf Zeche Kurl.
Die Idee hinter „HeimatErbe“ ist, den negativen Umweltwirkungen menschlicher Existenz etwas entgegenzusetzen, was der Natur die Möglichkeit zurückgibt, das zu produzieren, was wir fürs Überleben brauchen: saubere Luft, sauberes Wasser, vernünftige Böden, Biodiversität, Resilienz im Gesamtsystem. Wir kaufen Areale, die ökologisch in einem schlechten Zustand sind, und werten sie ökologisch auf. Im Ruhrgebiet haben wir verschiedene Bergbau- und Industriebrachen aufgekauft. Wir befreien diese Flächen von Altlasten und Müll, wir bauen Gebäude, Straßen, Parkplätze zurück und stimmen unsere Konzepte für die Renaturierung natürlich ab mit den Behörden, oft auch mit Naturschutzverbänden. Dafür nutzen wir keine öffentlichen Gelder, sondern die Mittel unserer Kunden. Mitte Juli hat das europäische Parlament entschieden, das 20 Prozent der Fläche in Europa nach diesem Konzept renaturiert werden sollen, das Gesetz muss aber noch zwischen den EU-Staaten ausgehandelt werden. Wir haben also vorweggenommen, was jetzt gemeinschaftlicher Auftrag wird.
Sollen die Flächen für Menschen offen bleiben?
Ja, sie sind öffentlich zugänglich. Wir machen regelmäßig Exkursionen, und da, wo wir größere Areale haben, versuchen wir, Freizeitnutzung und Ökologie in gute Kompromisse zu bringen. In Lünen haben wir extra Wege angelegt. In Ahlen auf der Halde Westfalen haben wir viele Gespräche mit Mountainbikern geführt. Ihre Lieblingsrouten können sie weiter nutzen, andere Routen werden im Einvernehmen stillgelegt.
Würde die Natur sich nicht die Flächen sowieso zurückholen?
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Wenn wir unendlich viel Zeit hätten, dann ja. Aber wir haben so viel Natur zerstört, dass unsere eigene Überlebensfähigkeit wirklich in Frage steht. Und nur wenn es uns gelingt, sehr schnell mehr Vielfalt zu erzeugen, in wenigen Jahren wieder neue Lebensräume zu erzeugen, haben wir überhaupt eine Chance, zu überleben und vor allen Dingen auch die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels etwas einzudämmen. Und auf unseren Flächen mit Altlasten und starker Versiegelung würde die Natur sehr lange brauchen. Wir sind also ein Beschleuniger. Die ökologische Aufwertung macht immer die Natur.
Sie sind aufgewachsen im Essener Norden, in einer Bergbaufamilie. Nun werden Sie zu einem Akteur, der im Ruhrgebiet Stadtteile und große Flächen prägt.
Ich bin neben der Zeche Wolfsbank geboren worden. Dort haben mein Opa und meine drei Onkel mütterlicherseits gearbeitet. Ich habe einen tiefen Respekt für ihre Lebensleistung, und ich habe ein Gefühl dafür, was das mit Umwelt anrichtet, denn ich habe noch Erinnerungen an die schwerindustrielle Zeit. Und ich sehe die transformatorische Kraft, die in dieser Region steckt. Wenn es uns gelingt, hier zu beweisen, dass wir zu nachhaltiger Transformation in der Lage sind, können wir daraus den nächsten Exportschlager machen, der vielleicht noch wertvoller ist als Kohle und Stahl.
Wie wird man Umweltunternehmer?
Niemand möchte, wenn er stirbt, seinen Kindern Schulden hinterlassen. Und so habe ich vor einigen Jahren für mich entschieden: Ich würde gerne bis zum Ende meines Lebens meinen ökologischen Fußabdruck so ausgleichen, dass meine fünf Kinder nicht die Umweltschuld meiner Existenz bezahlen müssen. Daraus wurde ein Buch und ein sehr großes Projekt. Viele Unternehmen, Menschen, Institutionen sind auf mich zugekommen und haben gefragt: Können wir da nicht mitmachen? Dann habe ich irgendwann gesagt: Ich verkaufe mein bisheriges Unternehmen, und beschäftige mich nur noch mit Nachhaltigkeit.