Düsseldorf. Pensionierte Ermittler haben hunderte unaufgeklärte Cold Cases von Mord und Totschlag untersucht. Und bei der Hälfte neue Spuren gefunden.

Ein Automechaniker soll es gewesen sein. Er soll die 50 Jahre alte Fremdenführerin in den Rheinauen bei Meerbusch getötet und dann in einem Maisfeld abgelegt haben. 31 Jahre ist das nun her, als „Cold Case“, galt dieser Fall, als Ermittlungssackgasse mit erkalteten Spuren. Doch vor einigen Wochen gab das Landeskriminalamt bekannt, den Täter ermittelt zu haben, nun müssen die Gerichte entscheiden, ob die neu gefundenen Beweise ausreichen. Der Automechaniker sitzt bereits in Haft, drei Jahre nach dem Tod der Frau hatte er eine zwölfjährige Schülerin erstochen.

Das Landeskriminalamt (LKA) hat sich alle unaufgeklärten Fälle von Mord und Totschlag und vermissten Personen zwischen 1970 und 2015 noch einmal angeschaut. Nun zieht es Bilanz, denn die „Besondere Aufbauorganisation Cold Cases“ läuft nach eineinhalb Jahren aus. Ihre Arbeit aber wird fortgeführt. „Mord verjährt nicht. Für uns ist das keine Floskel, sondern eine nie endende Verpflichtung“, sagt Ingo Wünsch, Leiter des LKA.

1.143 Fälle haben sie sich angeschaut, bei einigen waren tatsächlich schon Akten nicht mehr brauchbar oder verschwunden, andere waren zwischenzeitlich aufgeklärt worden, ohne dass dies vermerkt wurde. Aber alle 852 Fälle, in denen dies möglich war, sind nun digitalisiert, von der Spur über die Gegenstände bis zu 1,2 Millionen Blättern aus dem Archiv. „Keine Akte wird mehr im Keller verschwinden oder durch Wasserschaden verloren gehen.“ Ingo Wünsch richtet sich an die Täter: „Irgendwann stehen wir vor Ihrer Tür.“

Sechs Fälle schon aufgeklärt

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Tatsächlich sind die sechs Fälle, die schon aufgeklärt wurden, nur die Spitze des Eisberges: 403-mal haben die Ermittler neue Spuren gefunden, die dazu führen, dass Cold Cases neu aufgerollt werden sollen – immerhin in rund der Hälfte aller Fälle. Denn wahrscheinlich kommen weitere hinzu, noch sind etwa 150 Akten in der Bewertung. „Sie können sich darauf verlassen, dass es nicht bei den sechs Fällen bleiben wird“, sagt Colin B. Nierenz, der das Projekt leitet.

Natürlich spielt die DNA-Analyse eine entscheidende Rolle, wenn „Ermittler quasi in einer Zeitkapsel zurück in das Jahr der Tat reisen, bewaffnet mit dem kriminaltechnischen Besteck von 2023. Aber das hört sich so simpel an. „Seit den 70er-Jahren kleben wir den gesamten Körper eines Mordopfers mit etwa 300 Folien ab“, erklärt Nierenz. „Früher hat man daran nur fasern gefunden. Heute sind wir in der Lage einzelne Hautschuppen zu finden. Aber man kann nicht sagen, scann mal dreihundert Folien.“ Die Ermittler müssen verstehen was geschehen ist, um dann gezielt einzelne Folien zu untersuchen, wo der Täter oder die Täterin Spuren hätte hinterlassen können. Und dafür heißt es: lesen, lesen, lesen.

Eins Komma zwei Millionen Seiten!

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Eine Zahl ist gerade nur so nebenbei gefallen: Eins Komma zwei Millionen Seiten! Und die wurden alle gelesen, mehr oder weniger intensiv! Wer hat das denn alles bewältigt? – Franz Wirges zum Beispiel, der bis vor kurzem eine Mordkommission in Bonn geleitet hat und sich nach drei Monaten Pension gesagt hat: Ich kann noch mehr tun. 23 ehemalige Polizisten und eine Polizistin gehören wie er zur „Rentnerband“, Verzeihung, das sagt er selbst so, die die Akten umzugskartonsweise durchforstet haben. Wirges hat etwa 30 Fälle untersucht: „Es waren sicher 30.000 bis 40.000 Seiten, und da sind noch nicht die Spurenakten dabei“.

Kriminaltechnikerin Susanne Franke zeigt Herbert Reul (CDU) Spurenträger eines alten Falles.
Kriminaltechnikerin Susanne Franke zeigt Herbert Reul (CDU) Spurenträger eines alten Falles. © dpa | Federico Gambarini

Und Franz-Josef Arenz, ehemaliger Spurensicherer in Aachen, dem die Bezeichnung „senior expert“ lieber ist, „brennt es auf der Zunge“: „Sie haben keine Vorstellung, was das für Seiten waren. Eine Strafarbeit. Ganz dünnes Zeug, beidseitig beschrieben, die Rückseite perforierte durch die Vorderseite, die Scanner waren nicht bereit, mir ständig zu Willen zu sein, nein, man wehrte sich inständig.“ Außerdem: „Die Handschrift eines Staatsanwalts ist nicht mein Studienfach.“ Und dennoch: Arenz ist stolz dabei gewesen zu sein. Und er würde weitermachen.

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sDenn das ist geplant. „Jetzt beginnt Phase zwei“, sagt Landesinnenminister Herbert Reul (CDU). „Die nicht mehr kalten Fälle gehen nun an die Dienststellen, wo die Verbrechen auch passiert sind.“ Und die „alten Hasen und die Häsin“ (so sagt es ein LKA-Pressesprecher, werden auch entsprechend verteilt – wenn sie denn möchten.

„Ich habe in die Augen vieler Angehöriger geschaut“, sagt Wirges. „Wenn ein Haus abbrennt oder eingebrochen wird, ist das für die Betroffenen grausam. Aber wenn ein Mensch genommen wird, kommt keine Versicherung und bringt ihn zurück. Dann kommen die Ermittler.“ Und alles was sie geben können, ist Gewissheit, was geschehen ist. Franz Wirges hat maßgeblich dazu beigetragen, dass nun en Mann gefasst werden konnte, der 1987 einen versuchten Raubmordin Köln-Ehrenfeld begangen haben soll. Solch eine Chance besteht nun in rund 400 Fällen mehr.

>> Info: 380-mal Mord und Totschlag im Jahr

Etwa alle vier Tage wird ein Mensch in NRW getötet, zählt man die Fälle von versuchtem Mord oder Totschlag mit, kommt man auf 380 Kapitalverbrechen im Jahr 2022. Die Aufklärungsquote bei Mord und Totschlag ist überdurchschnittlich hoch, sie lag zuletzt in NRW bei 94 Prozent. Das bedeutet allerdings auch: 23 Fälle konnte die Polizei nicht gleich aufklären. Auch wenn die „BAO Cold Cases“ nun aufgelöst wird, verjähren auch die neuen Fälle nicht. Allerdings ist hier auch nicht mehr die Arbeit der Seniorexperten nötig, denn diese Verbrechen sind schon mit neuesten Methoden untersucht und digital dokumentiert worden.

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