Dortmund. Was mancher für einen Standortnachteil hält, kann eine Chance sein, sagt Expertin Martina Brandt: Das Ruhrgebiet altert schnell und früh.

Die Menschen im Revier sind älter als die in anderen Regionen des Landes, die Altersgruppe Ü60 ist hier längst die größte. Jeder zweite in Herdecke war 2020 schon über 51,7 Jahre alt. Selbst in größeren Städten wie Dortmund (43,5), Essen (44,4), Duisburg oder Bochum (44,9) liegt das „Medianalter“ deutlich über Düsseldorf (42,2) oder Köln (40,8). Die „Vergreisung“ des Reviers nennt mancher ein „Schreckensszenario“, für andere ist sie einzigartige Chance. Prof. Martina Brandt ist Inhaberin des Lehrstuhls für „Sozialstruktur und Soziologie alternder Gesellschaften“ an der TU Dortmund und leitet die Kommission, die derzeit den 9. Altersbericht der Bundesregierung erstellt. Im Interview erklärt die Sozialwissenschaftlerin Chancen und Risiken des demografischen Wandels im Revier.

Wir werden weniger und älter, überall in Deutschland. NRW ist im Bundesländer-Vergleich aber jünger als der Schnitt – das Ruhrgebiet wiederum deutlich älter. Woran liegt das?

Brandt:Das Ruhrgebiet altert schneller und bunter als der Rest Deutschlands. Erklären lässt sich das historisch: Mit der Montanindustrie explodierten im Ruhrgebiet bis Mitte der 1960er-Jahre die Bevölkerungszahlen – um das 26-fache, von 220.000 zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf knapp 5,7 Millionen zum größten deutschen Ballungsraum. Als Kohle und Stahl verschwanden, kamen weniger Jüngere nach. Was jetzt passiert, kann man bis zu einem gewissen Grad auch als eine „Korrektur“ interpretieren. Und das ist gar keine so schlechte Nachricht …

Wer wird die hochbetagten „Babyboomer“ versorgen?

Prof. Martina Brandt, Inhaberin des Lehrstuhls für „Sozialstruktur und Soziologie alternder Gesellschaften“ an der TU Dortmund.
Prof. Martina Brandt, Inhaberin des Lehrstuhls für „Sozialstruktur und Soziologie alternder Gesellschaften“ an der TU Dortmund. © TU Dortmund | TU Dortmund

Aber Pflegekräfte sind schon jetzt rar. Alte sind fitter als früher, viele werden dennoch Hilfe benötigen. Wer wird die hochbetagten Babyboomer, die starken Jahrgänge der 50er/60er einmal versorgen, wenn sie es allein nicht mehr können? Parallel zum Anstieg der alternden Bevölkerung sinkt ja der Anteil der Jüngeren, der Erwerbstätigen …

Wir werden älter als früher, und wir bleiben dabei länger gesund, ja. Ich denke, das ist eine große Errungenschaft – auch wenn die meisten irgendwann tatsächlich Hilfe brauchen werden. Wir müssen uns gemeinsam anpassen: die Bedingungen in der Pflege drastisch ändern, da gibt es noch Riesenpotenzial; den technischen Fortschritt gerade in diesem Sektor ausschöpfen; auf bürgerschaftliches Engagement setzen. Warum nicht die gewonnenen Lebensjahre nutzen, um mitzuhelfen? Was nicht heißen soll, dass im Alter niemand mehr gemütlich vor dem Fernseher sitzen darf … Wir sollten auch beim Renteneintrittsalter neu denken. Wer länger arbeiten will, sollte länger arbeiten dürfen und können. Die Arbeitgeber werden sich einiges einfallen lassen, um Fachkräfte künftig zu halten, auch in der Pflege.

Die Nachkommen der Zugewanderten können uns helfen

Welche gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen bringt der demografische Wandel über das Thema Pflege hinaus mit sich?

Ein Knackpunkt ist sicher die Rente. Umlagefinanzierung ist nicht das einzig denkbare Modell. Wir brauchen ein flexibles, atmendes, Demografie-sensibles System. Denn wenn die Babyboomer Vergangenheit sind, werden wir wieder vor anderen Herausforderungen stehen. Zudem müssen Beruf und Pflege künftig besser miteinander vereinbar sein, wir brauchen flexible Lebenszyklus-spezifische Arbeitszeiten. Eine weitere Kernfrage wird das Wohnen im Alter sein. Es gibt viel zu wenig barrierefreien Wohnraum. Der im Übrigen auch Familien mit Kindern oder Menschen mit Behinderungen zugutekommt. Wir müssen künftig mehr zirkulär, modular bauen.

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Künftig werden auch mehr Zugewanderte mit Migrationshintergrund, Menschen aus anderen Kulturen, das Rentenalter erreichen. Auch mehr Queere vielleicht. Sind wir darauf vorbereitet?

Gute Frage. Das ist Neuland für uns, vor allem, was die wachsende Zahl der Älteren mit Migrationshintergrund angeht. Und diversitätssensible Pflege ist ein ganz wichtiges Thema. Die Nachkommen der Zugewanderten können uns aber helfen, sie kennen die besonderen Bedürfnisse und die Erwartungen, die ihre Eltern oder Großeltern an die Versorgung im Alter stellen. Wir haben an der TU Dortmund sehr viele Studierende mit Migrationshintergrund, die befassen sich genau mit diesen Fragen, entwickeln passende Konzepte – und wir lernen jeden Tag dazu.

„Überalterung ist ein Wort, das ich nicht verwende“

Der demografische Wandel im Revier ist für Sie nicht nur Grund zur Sorge, sondern auch eine Chance. Wie kann das Revier seine Überalterung zum Standortvorteil machen?

„Überalterung“ ist ein Wort, das ich nicht verwende – es gibt keine richtige oder falsche Altersstruktur. Sicher ist: Das Ruhrgebiet altert früher und schneller als andere Regionen. Hier lässt sich die zukünftige Entwicklung wie unter einem Brennglas beobachten. Deshalb können wir Modellregion sein. Schon jetzt lernen andere aus unseren Erfahrungen. Viele tolle Projekte und soziale Innovationen sind hier ins Leben gerufen worden …

Welche? Nennen Sie bitte ein paar Beispiele.

Allein in Dortmund gibt es viel Beeindruckendes, Generationenprojekte im Bereich Wohnen etwa, wie „WohnreWir“ am Tremoniapark. Oder die Seniorenbüros, die die Versorgung Älterer vor Ort koordinieren, im Stadtteil zu allen Fragen rund ums Thema beraten – und deutschlandweit zum Beispiel genommen werden. Ein ganz tolles Projekt ist auch Zwar (Der Verein „Zwischen Arbeit und Ruhestand“, die Red.) . Die erste Gruppe entstand kurz vor der Stilllegung des Hoesch-Werks – um die entlassenen Arbeiter aufzufangen. Heute gibt es 300 solcher Netzwerke in 80 Kommunen in NRW. Auch unser Masterstudiengang „Alternde Gesellschaften“ hat Vorbild-Charakter, genau wie unser „Seniorenstudium“ an der TU Dortmund, das Ältere auch ohne Abitur explizit zur Weiterbildung und gesellschaftlichen Partizipation einlädt, wo sie lernen, diese Lebensphase selbstbestimmt zu gestalten.

Alter ist heute nicht mehr nur „Rest-Lebenszeit“

Das klingt in der Tat beeindruckend.

Wir müssen nicht alles schönreden, es gibt ganz klar Handlungsbedarfe. Aber wir dürfen nicht in Schreckstarre verfallen oder die Zukunft nur noch negativ sehen. Wir müssen das jetzt einfach angehen, Verantwortung übernehmen und uns an die Gegebenheiten anpassen – das ist Gesellschaft.

Das Ruhrgebiet als „Prototyp“ des demografischen Wandels zu sehen, sich mit seinem Alter zu brüsten, sich so fokussiert um Senioren zu kümmern: birgt das nicht auch Risiken? Sollten wir nicht besser versuchen, wieder mehr Junge fürs Ruhrgebiet zu begeistern?

Das ist kein Entweder-oder, und man sollte auch Jung und Alt nicht gegeneinander ausspielen. Und das Alter ist keine „Restlebenszeit“. Heute ist es eine lange Phase, in der noch viel Produktivität möglich ist. Das starre Modell „Bildung-Arbeit-Rente“ hat ausgedient, es gibt viel dazwischen. Die Bevölkerung ist zudem immer im Wandel. Das Credo ist, Demografie-sensible Politik zu machen. Und vielleicht können wir uns auch einfach einmal darüber freuen, dass wir – Jung und Alt – länger leben.

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Dieser Beitrag erscheint anlässlich des 75. Geburtstages der WAZ. Alle Artikel zum Jubiläum finden Sie unter waz.de/75jahrewaz. Unsere große Jubiläumsausgabe können Sie auch online durchblättern als digitales „Flipbook“: waz.de/jubilaeum.