Recklinghausen. Leere Kaufhäuser können die Entwicklung einer Stadt blockieren. In Recklinghausen zeigt sich gerade, wie man das lösen kann. Mischung macht’s.

Karstadt steht schief. Als Passant sieht man dem achtstöckigen Klotz im Herzen von Recklinghausen natürlich nicht an, dass er im Lauf der Jahrzehnte schlauerweise der einen oder anderen Bergsenkung nachgegeben hat. Aber Udo Obermann weiß ganz genau, was er selbst getan hat: unter anderem im Innenausbau 60 bis 70 Zentimeter Höhenunterschied auf 54 Metern Tiefe ausgeglichen. Für die kommenden Bewohner ist alles bereitet. Alles gerade. Eben.

Udo Obermann ist seit bald drei Jahren der Projektleiter, der aus dem früheren Kaufhaus das „Marktquartier“ macht. „Kleine Leistungen sind noch zu erledigen“, sagt der Architekt aus Düsseldorf. Im Innern trifft man auf eine Mischung aus Restarbeiten und Endreinigung, dann zieht hier neues Leben ein. Fahrtziel Frühsommer. Und das Gebäude sieht auch noch gut aus, strahlt zu einem großen Teil in schneeweiß. Sehr schön. „Finden wir tatsächlich auch“, sagt Obermann.

Bald kommen weitere Kaufhäuser auf den nicht vorhandenen Markt

Projektleiter Udo Obermann hat jetzt fast drei Jahre an dem alten Gebäude mit dem neuen Namen „Marktquartier“ gearbeitet.
Projektleiter Udo Obermann hat jetzt fast drei Jahre an dem alten Gebäude mit dem neuen Namen „Marktquartier“ gearbeitet. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Jetzt kann das alte Kaufhaus ohne weiteres als Musterbeispiel für neue Nutzung durchgehen. Die Firma AIP aus Düsseldorf hatte schon den Kaufhof in Mülheim bis auf die Bodenplatte abgetragen und dann an derselben Stelle eine neue große Immobilie errichtet und mit Mischnutzung gefüllt. In Recklinghausen steht nun ein weiteres Referenzobjekt - gerade rechtzeitig, um sich um weitere, leer werdende Klötze zu bemühen, die demnächst auf einen eigentlich gar nicht vorhandenen Markt purzeln.

Also: Ins Recklinghäuser Haupthaus sind Aldi, die Gastronomie „Extrablatt“ und das Hotel „Holiday Inn Express“ schon eingezogen und in Betrieb. Die 87 barrierefreien Wohnungen darüber sind praktisch fertig, auch die Station mit Tages- und Kurzzeitpflege-Plätzen der „Bonifatius Seniorendienste GmbH“. Sie wird auch den Bewohnern und Bewohnerinnen der Wohnungen Betreuungsleistungen anbieten, falls erwünscht. Ins große, frühere Karstadt-Bettenhaus direkt daneben sind eine Apotheke und eine der größten Zahnarzt-Praxen Deutschlands eingezogen. Die oberen Etagen gehören der neuen Kita. Einen Ausblick haben die Kleinen . . .

Viele brauchen mehr als fünf Jahre, nicht wenige mehr als zehn

Galeria Karstadt Kaufhof wird in den nächsten Monaten viele Städte in Deutschland sitzen lassen. Essen, Dortmund, Gelsenkirchen darunter, betroffen ist auch ein Kaufhaus in Duisburg. In den Rathäusern denken sie bereits mit Grauen an die Zeit, wenn die früheren Konsumgiganten dann als Nichtsnutz-Kolosse breitbeinig der Stadtentwicklung im Weg stehen. Das werden, darf man getrost voraussagen, harte Jahre. Doch dahinter flackert ein Lichtlein.

Nina Hangebruch weiß das sehr gut, die Raumplanerin aus Dortmund. Sie hat sich forschend mit 220 Standorten befasst, die seit 1994 von Kaufhäusern in Deutschland aufgegeben wurden. Ein Drittel der Gebäude wurde abgerissen, zwei Drittel werden neu genutzt. Immer in einer Mischung. Für die kommen Handel und Gastronomie in Frage, auch Büros, Hotels, Pflege, Fitness, Stadtverwaltung . . . Aber es dauert. Oft länger als fünf Jahre, nicht selten mehr als zehn.

„Ein finanzstarker, professioneller und zielstrebiger Investor“

Außenansicht vom umgebauten Karstadt-Kaufhaus in Recklinghausen.
Außenansicht vom umgebauten Karstadt-Kaufhaus in Recklinghausen. © FUNKE Foto Services | Svenja Hanusch

Sieben Jahre hat es in Recklinghausen gedauert. Bürgermeister Christoph Tesche (CDU) empfindet es heute „wie einen Sechser im Lotto, dass ein finanzstarker, professioneller und zielstrebiger Investor das Projekt in Angriff genommen hat“. Ganze zwei Ladenlokale und eine Gastronomie sind noch frei. „Die Vermietungsquote ist bei 95 Prozent“, sagt Obermann - wobei es an den Bonifatius-Diensten ist, ihrerseits die Wohnungen zu vermieten.

Dabei haben die Projektentwickler manchen Stein auf dem anderen gelassen. Udo Obermann leuchtet mit seinem Mobiltelefon durch ein Versorgungsloch ins Dunkle über einer Zimmerdecke, da ist tatsächlich im Leerraum die alte Kaufhaus-Zwischendecke zu sehen. Aber karstädtische Deckenhöhen von 5,40 Metern hätten die Vermarktung von Seniorenwohnungen vermutlich erschwert, muss man annehmen; und auch das Hotel hätte sich ein bisschen geziert.

An den Dachterrassen arbeiten sie noch

Also hat sich das Kaufhaus auch optisch sehr gewandelt. In die Front wurden Fenster geschnitten, neue Aufzugschächte entstanden, die niedrigen Zimmerdecken, die Balkone. An den Dachterrassen arbeiten sie noch. Aber das Prunkstück ist der Innenhof. Tonnen und Abertonnen von Stein, Beton und Stahl mussten aus dem Innern des Gebäudes geschnitten und entfernt werden, sonst wäre das Ganze ein tiefer, dunkler, kaum zu nutzender Komplex geblieben. Kein Gedanke dann an Wohnungen.

Der Innenhof ist begrünt und zugänglich. Rasen wächst, Bäume blühen, Pflanzen ranken. Weiße Fassaden umgeben den Hof von allen Seiten, fünf bis sieben Stockwerke - je nach Seite - halten den innerstädtischen Lärm komplett fern. Woher kommt denn das Plätschern? Ein Wasserbecken haben sie hier angelegt und einen höher liegenden Wasserlauf: Das Plätschern ist stimmungsvolle Absicht. Und hat nichts zu tun mit dem Schiefstand. Das ist es ja: eben.