Lüdenscheid. Sebastian Wagemeyer ist Bürgermeister von Lüdenscheid. Was die Brückensperrung an der A45 mit ihm und der Stadt gemacht hat.
Nicht mal mehr Witze machen kann man über diese Stadt. „Was ist das Beste an Lüdenscheid?“, war früher eine beliebte Frage in der Region. Antwort: „Die Autobahn nach Hagen“. Aber so einfach kommt man nicht mehr weg von hier. Denn die Rahmedetalbrücke der A 45, über die man dafür fahren muss, ist seit fast 18 Monaten gesperrt. Sebastian Wagemeyer kennt Scherze wie diese. „Aber so schlimm“, sagt der Bürgermeister von Lüdenscheid, „ist es hier nun auch nicht.“
Es könnte natürlich besser sein. Länger schon. Im September 2020 wird der SPD-Mann erstmals ins Amt gewählt. „Etwas bewegen“ will er, Krisen meistern muss er. Corona hat Lüdenscheid im Griff. Im Sommer 2021 kommt die Flut, kurz vor Weihnachten 2021 die Nachricht von der maroden Brücke.
Anfangs keine Vorstellung von der Dimension der Sperrung
Natürlich weiß Wagemeyer noch genau, wo er war am 2. Dezember 2021, als er sie bekommt. „Hier“, sagt er und zeigt kurz hinter sich auf den Schreibtisch in seinem Büro im Rathaus. Da, wo Skateboards und gerahmte Poster von der Band „Beastie Boys“ an den Wänden hängen, sitzt er an jenem Nachmittag, als sein Handy klingelt. „Unbekannte Nummer“ steht auf dem Display und als er das Gespräch annimmt, meldet sich Elfriede Sauerwein-Braksiek, Direktorin der Niederlassung Westfalen der Autobahn GmbH des Bundes.
„Ich wollte Sie kurz darüber in Kenntnis setzen, dass wir die Rahmedetalbrücke an der A45 geprüft haben und ich beabsichtige, diese Brücke auf Grund der festgestellten Mängel in der nächsten halben Stunde voll zu sperren“, sagt sie. Der 46-Jährige sagt darauf erst einmal nichts. „Im ersten Augenblick begreift man ja gar nicht, was das bedeutet.“ Eine Stunde und viele Anrufe später weiß er es. „Verkehrskollaps.“ Tausende Pkw und Lkw schieben sich im Schneckentempo durch die Straßen der Stadt, statt auf der A45 an ihr vorbei zu rauschen. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Denn war anfangs nur die Rede davon, die Brücke zu verstärken, stellt sich später heraus: Eine Sprengung ist unvermeidlich.
„Manche haben das Gefühl, sie werden abgehängt“
„Auch das noch“, sagen viele Menschen in der Stadt seitdem. Wagemeyer, wie fast immer im lässigen Jackett und mit exakt getrimmten Graubart, nickt. „Solche Stimmen gibt es.“ Natürlich, sagt er, habe die Brücke etwas mit der Stadt gemacht. „Manche haben das Gefühl, sie werden abgehängt.“ Aber, sagt er ebenfalls, „es gibt auch viele, die nach vorne blicken“. Menschen, die sagen: „Jetzt erst recht.“
Auch interessant
Auch Wagemeyer sagt das. „Wir müssen die Situation auch als Chance begreifen. Viele Probleme, stellt er klar, habe es schon vor der gesperrten Brücke gegeben, manche sogar weit vor Corona. Durch die Krisen sei allerdings „die Spirale des Niedergangs schneller geworden“. Aber vielleicht, hofft Wagemeyer, „beschleunigt sich nun auch der Aufbruch“.
Von Krisensitzung zu Krisensitzung
Jedenfalls gibt es viel Arbeit. Für die Leute der Autobahn GmbH ebenso wie für seine Mitarbeiter in der Verwaltung. „Die machen alle einen tollen Job.“ Auch Wagemeyer leidet nicht an Langeweile. „Ich glaube, ich habe mehr Krisenstabssitzungen mitgemacht, als alle anderen Bürgermeister Lüdenscheids seit Ende des 2. Weltkrieges zusammen.“ Und es gibt ja nicht nur den Krisenstab. „Was durch die Brücke an Terminen zusätzlich hinzugekommen ist, sprengt jeden Kalender.“
Auch an diesem Tag. Gerade war die Schulministerin zu Besuch in der Stadt, gleich geht es nach Düsseldorf ins Gesundheitsministerium, um über Hilfen für mobile Pflegedienste zu sprechen, die seit der Sperrung riesige Probleme haben. Und abends ist er auf einer Versammlung der Bürgerinitiative A 45. Ruhig geht es dort selten zu.
„Irgendeiner ist immer unzufrieden“
Und es gibt nicht wenige, die ihn auch auf der Straße ansprechen. Wagemeyer findet das „menschlich verständlich. Die Menschen fragen sich ja erst einmal, wer schuld ist an der Misere, die sie gerade erleben.“ Und das ist für viele erst einmal das Rathaus, speziell der Bürgermeister. „Mach mal was“, sagen sie ihm. „Du machst ja nichts.“ Doch egal, was er macht, „irgendeiner ist immer unzufrieden“. Aber er war mal Schulleiter an einem Lüdenscheider Gymnasium. „Da bekommt man eine gewisse Gelassenheit.“
Manche Menschen allerdings sind nicht sauer, sie sind verzweifelt. Menschen, die an der Umleitungsstrecke ein Geschäft aber nun keine Kunden mehr haben etwa. Die nichts falsch gemacht haben, aber trotzdem kurz vor dem Ende sind. „Sie sitzen vor mir und weinen. Das kommt ganz oft vor.“
Probleme nicht mit nach Hause nehmen
Die Stadt habe aber nicht die finanziellen Mittel, sie zu unterstützen. Wagemeyer nimmt ihre Probleme deshalb mit in den sogenannten Lenkungsausschuss. „Land und Bund müssen solchen Menschen helfen“, findet er. Sonst würden die Betroffenen sich abwenden von der Politik. „Die gehen nie wieder wählen.“
Auch interessant
Natürlich nehmen ihn solche Schicksale mit, räumt Wagemeyer ein. Aber er schafft es, die Probleme nicht mit nach Hause zu nehmen. Auch das hat er zu Schulzeiten gelernt. „Ich schlafe immer noch gut.“ Auch genug? Er lächelt. „Definiere genug.“ Immerhin nimmt er sich auch mal eine Auszeit als Bürgermeister, ist auch – allerdings „immer erreichbar“ – in Urlaub gefahren. „Das bin ich meiner Familie schuldig.“ Muss auch sein, findet er. Nicht nur in Lüdenscheid. „Das ist eine ganz wesentliche Frage für die zukünftige Besetzung solcher Ämter“, sagt Wagemeyer. „Wenn das nicht gelingt, wird sich mittelfristig kein vernünftiger Mensch mehr finden, der diesen Job macht.“
Am 7. Mai soll die Brücke fallen
Am 7. Mai wird Wagemeyer vor Ort sein. Dann soll die alte Brücke gesprengt werden. „Eine Zwischenstation nur“, ist er sich klar. Aber auch ein Zeichen. Dafür, dass sich etwas tut, dass es vorangeht. Mindestens dreieinhalb Jahre, bis dann zumindest wieder Autos rollen auf der A45 Höhe Lüdenscheid. Bei nur einer Amtszeit wäre er dann nicht mehr Bürgermeister. Will er weitermachen? Er zögert kurz mit der Antwort. „Das hängt nicht nur von mir ab“, sagt er dann. „Das ist ja auch eine Entscheidung der Partei und meiner Familie. Und natürlich der Wähler und Wählerinnen.“
Spielen sie alle mit, wird er wohl wieder einziehen ins Rathaus, auch wenn er das so direkt nicht sagt. Nicht nur, weil Lüdenscheid „viel Potenzial“ hat, das er heben möchte. Sondern auch wegen all des Ärgers und der Arbeit, die er als Bürgermeister mit der Brücke bisher hatte und weiter haben wird. „Wenn der Verkehr da endlich wieder läuft, das lässt man sich eigentlich nicht entgehen.“