Minden-Lübbecke. Seine Eltern waren Gastarbeiter, er ist Deutschlands erster Landrat mit ausländischen Wurzeln: Ali Dogan. Wie er der Benachteiligung trotzt.
Ali Dogan erinnert sich gut an den Tag vor 31 Jahren: Grundschule, vierte Klasse, er, sein Vater und älterer Bruder waren zum Gespräch bei der Klassenlehrerin. Ali war Jahrgangsbester, hatte fast nur Einsen auf dem Zeugnis, ein klarer Fall fürs Gymnasium. „Und doch wollte mich die Klassenlehrerin auf die Realschule schicken. Sie meinte, meine Eltern könnten zu schlecht Deutsch und mich nicht unterstützen“, weiß er noch heute.
Sein Bruder, damals 15, hatte Jahre vorher Ähnliches zu hören bekommen. Nun machte er sich für Alis Zukunft stark. Mit Erfolg: Er stimmte die Lehrerin um. Ali durfte aufs Gymnasium in Deutschland – als erster der Familie.
Ali Dogans „Quantensprung“ zum Landrat
Heute sitzt Ali Dogan nicht mehr im Klassenzimmer, sondern im Büro 205 des Kreishauses Minden in Ostwestfalen, zweiter Stock. Er hat eine Glatze, einen Dreitagebart und trägt einen schicken Anzug. Und wieder hat er etwas Einmaliges erreicht: Ende Januar haben ihn die Bewohner des Kreises Minden-Lübbecke zum ersten Landrat Deutschlands mit Migrationshintergrund gewählt. Ein „Quantensprung“, wie Dogan sagt.
Leicht gemacht wurde es Dogan nicht, so wie den meisten anderen auch, die Ali, Mehmet oder Hüseyin heißen, wie er sagt. „Irgendwie wurde man immer ausgegrenzt. Das zieht sich durch das ganze Berufsleben.“ Auch Frauen, Menschen mit Behinderung und Arbeiterkinder aus armen Verhältnissen seien davon betroffen. Zu letzteren gehörte Dogan ebenfalls, was seinen Weg zusätzlich erschwerte.
Dogans Eltern kamen 1971 von der Türkei als Gastarbeiter über Mainz und Gummersbach nach Herford. Nach seiner Geburt 1982 wuchs Ali Dogan mit seinem Bruder und seiner sieben Jahre älteren Schwester in Enger auf: Fünf Personen in einer 65 Quadratmeter kleinen Wohnung über einem Drogeriemarkt.
Sein Bruder als Unterstützung, seine Mutter als Antrieb
Dogans Bruder, mittlerweile Top-Manager und Chef von Westfalia Mobil, habe auf einer Schlafcouch im Flur neben dem Schuhschrank geschlafen. Ali Dogan habe sich mit seiner Schwester ein Zimmer geteilt und in Schrankbetten geschlafen. „Rückblickend war das natürlich pure Armut, so habe ich das aber nie wahrgenommen. Es war eine tolle Kindheit“, blickt der 40-Jährige zurück.
Seine Mutter – Analphabetin, Fließband-Arbeiterin – sei schon früh sein größter Antrieb gewesen, hart zu arbeiten. „Wir sollten uns bilden und es später mal besser haben“, habe sie nach langen Arbeitstagen am Fließband zu Ali Dogan und seinen Geschwistern gesagt. Hinzu kam Dogans größerer Bruder als Vorbild: „Wenn ich doppelt so viel arbeiten musste, musste er dreimal so viel arbeiten.“ Er habe sein Ausbildungsgehalt gespart, um Ali Dogan Taschengeld zu geben und den Computer zu finanzieren.
Dogans Bilderbuch-Karriere in der SPD
Der heutige Landrat hatte zuerst den Wunsch, Strafverteidiger zu werden: „Ich wollte mich schon immer für die Schwachen einsetzen, obwohl ich früher selber zu den Schwachen gehörte.“ So begann er 2001 ein Jura-Studium an der Uni Bielefeld. Gleichzeitig startete er eine sozialdemokratische Bilderbuch-Karriere: Mit 19 Juso, mit 26 SPD-Mitglied, mit 29 Volljurist. Erste Anstellung im Willy-Brandt-Haus, kurz darauf als Sozialreferent ins Wahlkampfteam von Hannelore Kraft. Der Ärger über die Agenda 2010 treibt ihn in die Partei. Er dachte: „Jetzt musst du erst recht eintreten und die Partei von innen verändern.“
Dogans berufliche Zukunft besiegelte ein Anruf an einem Samstagnachmittag. Er erinnert sich noch genau: Dogan stand in seinem Garten in Bünde am Grill, als die kommende Ministerpräsidentin Kraft anruft: „Willst du Referent der Staatssekretärin im Arbeitsministerium werden?“, habe sie gefragt. Bedenkzeit bis morgen früh. Dogan sagte zu. Samstag noch am Grill, Montag schon im Arbeitsministerium.
Als sich die Chance ergab, griff er zu
Sechs Jahre lange pendelte Dogan vier Stunden täglich von Düsseldorf nach Königswinter. Dort lebte er mit seiner Frau Sevil, die in Königswinter geboren wurde und als Lehrerin arbeitete. Als die Stadt Sankt Augustin ganz in der Nähe 2017 einen Posten als Beigeordneter ausschrieb, griff Dogan zu. Bis zu seiner Kandidatur 2023 war er zuerst Sozial- und Jugenddezernent, ab 2020 dann Stadtdirektor.
Langfristig wollte Dogan aber nach Ostwestfalen zurückkehren – auch, weil seine Mutter schwer krank wurde. Als die SPD in Minden-Lübbecke nach einem Kandidaten für den Kampf um das Landrats-Amt suchte, griff er zu. Ein Herforder als Landrat im Nachbarkreis, kann das funktionieren?
500 Termine in drei Monaten
Dogan glaubte fest daran: „Die Region und Mentalität kannte ich ja. Und oft bringt ein externer Blick den nötigen frischen Wind.“ Um die Bewohner kennenzulernen, habe Dogan in drei Monaten etwa 500 Termine und knapp 3000 Haustüren besucht – jeden Tag 18 Stunden im Einsatz. Dafür seien zwei Jahresurlaube und jede Menge Zeit mit der Familie draufgegangen: „Meine Kinder habe ich inklusive Weihnachten an drei Tagen gesehen.“
Es sollte sich auszahlen: In der Stichwahl mit dem CDU-Kandidaten Ende Januar holte Ali Dogan knapp 56 Prozent. Direkt am Tag nach der Wahl habe er den Mietvertrag seines neuen Hauses in Minden unterschrieben, direkt neben dem Kreishaus. Dort wohnt er nun vorerst allein. Die Familie zieht erst im Juli nach.
Ali Dogan – Vorbild für andere Politiker?
Als Landrat will er vor allem für diejenigen kämpfen, die es im Leben besonders schwer haben, so wie er früher: „Ich will keinen Menschen zurücklassen.“ Manche sehen darin ein Vorbild für andere Politiker. So habe ihm ein Parteifreund nach der Landtagswahl in Berlin geschrieben, die SPD solle „mehr Ali wagen“. So weit geht Dogan selbst nicht, doch er gibt zu: „Sich näher an die Menschen heranzutrauen und nicht alles mit einer verbohrten Parteibrille zu betrachten, das könnten sich einige von mir abschneiden.“