Duisburg. Seit Kriegsbeginn sind Tausende Kinder aus der Ukraine nach Russland verschleppt worden. Für die meisten gibt es keinen Weg zurück nach Hause.

Sie behaupten, sie wollen die Kinder retten. Sie versprechen ihnen Ferien weit weg, wo es keinen Krieg gibt. Sie öffnen Fluchtwege, die im Feindesland enden: Tausende Kinder sind seit Kriegsbeginn aus der Ukraine nach Russland gebracht worden. „Evakuiert“, sagen die Russen, „verschleppt“, sagt nicht nur die Regierung in Kiew. „Kindesentführungen sind Kriegsverbrechen“, mahnen Hilfsorganisationen wie die Kindernothilfe. Und selten gibt es für die jüngsten Opfer des Krieges einen Rückweg nach Hause.

Es war im April 2022, der Krieg zwei Monate alt und die Front mitten in Charkiw, tief im Osten der Ukraine. Über einen „humanitären Korridor“, wie die russischen Soldaten so viele öffneten, manchmal nur für Stunden, floh die Familie in die einzige Richtung, die es für sie gab: nach Russland. In Krasnodar wurden die Eltern verhaftet. Es dauerte acht Monate, bis ihre elfjährige Tochter, mit Hilfe von Unterstützern aus mehreren Ländern, in einem Lkw über das Baltikum zurückkehrte in ihre Heimat. Sie lebt jetzt bei den Großeltern – das ist eine Geschichte mit „glücklichem“ Ausgang. Und selten.

Ein Fluchtkorridor für Kriegsflüchtlinge in Irpin. Ukrainische Soldaten, wie hier, lassen die Menschen in Richtung Westen fliehen. Bei russischen Kräften gibt es oft nur ein Ziel: Russland.
Ein Fluchtkorridor für Kriegsflüchtlinge in Irpin. Ukrainische Soldaten, wie hier, lassen die Menschen in Richtung Westen fliehen. Bei russischen Kräften gibt es oft nur ein Ziel: Russland. © picture alliance/dpa/SOPA Images via ZUMA Press Wire | Mykhaylo Palinchak

Auch russische Aktivisten helfen den Kindern nach Hause

Tausende andere Kinder sind aus der Ukraine verschwunden, und niemand weiß, wo sie sind. Von Dima berichtete in dieser Woche das ZDF, den man aus Cherson in ein „Sommerlager“ schickte auf die Krim. Als die Russen sich zurückzogen aus der Stadt am Fluss, durfte er nicht mehr zurück. Von Oleksandr, der einen Granatsplitter ins Gesicht bekam und dessen Mama eine „Befragung“ im Militärkrankenhaus nicht „bestand“ – Oleksandr durfte sich nicht einmal mehr verabschieden. Die Kindernothilfe weiß von einer Familie mit Baby, die wegen fehlender Dokumente Russland nicht wieder verlassen kann, und von so vielen anderen Kindern, von denen sie aus Sicherheitsgründen nicht erzählen darf. Ihre Geschichten hat die Hilfsorganisation zusammen mit einer Menschenrechts-Anwältin aus Russland und zahlreichen Aktivisten aus beiden betroffenen Ländern dokumentiert.

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Die ukrainische Polizei führt eine Seite im Internet, die „Kriegskinder“ heißt: Children of War. „Wanted“, Gesucht, steht unter einer endlosen Bildergalerie, lauter junge Gesichter. Verwandte können über Nachnamen suchen und über das Geburtsdatum, 2016, 2019, 2021 sogar. „Manche sind so klein“, sagt Frank Mischo von der Kindernothilfe, „dass sie selbst nicht sagen können, wie sie heißen oder wo sie herkommen.“ Bei manchen sind die Eltern fort. Oder tot. Der Krieg hat die Familien auseinandergerissen.

Ukraine meldet bis zu 16.000 verschleppte Kinder

Die Kindernothilfe hat versucht, all’ die verlorenen Kinder zu zählen, aber das ist schwierig. Mehr als 16.000 habe Russland verschleppt, sagt die Ukraine. Von 6000 spricht eine Studie der Universität Yale aus dieser Woche. 350 meldet das Flüchtlings-Hilfswerk der Vereinten Nationen, in dem sowohl die Ukraine als auch Russland vertreten sind – eine heikle Gemengelage. Die „dramatischen“ Unterschiede zeigen Frank Mischo, der sich als „Advocacy Manager“ bei der Kindernothilfe um Menschenrechtsfragen kümmert, gewissermaßen als Anwalt für Kinderrechte: „Es sind politische Zahlen.“

Diese Ukrainerinnen haben es geschafft: Sie haben die Grenze nach Polen erreicht.
Diese Ukrainerinnen haben es geschafft: Sie haben die Grenze nach Polen erreicht. © picture alliance/dpa | Michael Kappeler

Nach aufwändigen Recherchen steht für Mischo aber „außer Frage, dass ukrainische Mädchen und Jungen aus ihrer Heimat entführt werden“. Wie viele genau, müsse erhoben und transparent gemacht werden: schon um die Schuldigen zu finden und bestrafen zu können. „Die Verschleppung von Kindern ist ein schweres Kriegsverbrechen“, sagt auch die Kindernothilfe-Vorstandsvorsitzende Katrin Weidemann. Die Organisation mit Sitz in Duisburg verurteile das „auf das Schärfste“. Tatsächlich gehört die Entführung zu den laut UN-Kinderrechtskonvention „schwersten Kinderrechtsverletzungen“ neben zum Beispiel Tötung oder sexualisierter Gewalt.

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Kinderheime von Soldaten evakuiert

Experten sehen solche Verbrechen in allen Kriegen, in Konflikten seien Kindesentführungen, sagt Frank Mischo, „leider Alltag“. Dabei seien nicht alle ukrainischen Kinder mit Gewalt verschleppt worden. In Mariupol im Süden der Ukraine hat es das gegeben: Dort hätten Soldaten Eltern unter Druck gesetzt. Andernorts führte der Weg durch Flucht-Korridore nur nach Russland, Familien hatten keine Wahl. Manche entschieden selbst, vor den Bomben nach Osten zu fliehen, wegen der Sprache oder um die Väter vor dem Militärdienst zu schützen – und wurden vor Ort getrennt. Aber auch viele Kinderheime wurden schlicht evakuiert: Russische Soldaten holten (Kriegs-)Waisen oder behinderte Kinder in ihr Land. Die Ukraine hatte vor dem Krieg europaweit die meisten Mädchen und Jungen in Heimen und Internaten, rund 91.000.

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Zahlreiche Eltern schickten den Nachwuchs zudem dankbar in so genannte „Sommerlager“: Hinaus aus dem Kriegsgeschehen, aber ungewollt hinein in militärischen Drill; „Umerziehungslager“ seien die Ferienorte tatsächlich, klagen Menschenrechtler. Und das sei auch der Sinn der russischen Aktionen: eine „Russifizierung“ junger Menschen, die oft schnell adoptiert und eingebürgert werden. Offiziell verkauft Moskau die Verschleppungen als Rettung; Bilder von Soldaten und russischen Müttern mit vermeintlichen „Kriegswaisen“ auf dem Arm nutzen der Propaganda, der Erzählung von der nötigen „Befreiung“ der Ukraine. So wird den Kleinsten ihre Heimat, ihre Identität geraubt und den Eltern der Wille zum Widerstand. Die ukrainische Kultur auf diese Weise auszulöschen, sagt Frank Mischo, sei „Teil des Völkermords“.

Frank Mischo, bei der Kindernothilfe in Duisburg als Anwalt für Kinderrechte tätig.
Frank Mischo, bei der Kindernothilfe in Duisburg als Anwalt für Kinderrechte tätig. © Handout | KNH

Kindernothilfe sucht Wege nach Hause

Den es zu verhindern gelte: „Wir müssen“, sagt Kindernothilfe-Chefin Weidemann, „uns dafür einsetzen, dass der Krieg nicht weiter die Kindheit und das Leben unzähliger Mädchen und Jungen zerstört.“ Hinter den Kulissen und über geheime Kanäle versucht die Kindernothilfe, gemeinsam mit ukrainischen und auch russischen Aktivisten, aber auch mit politischem Druck den Blick auf die Kinder zu stärken. Wege nach Hause für sie zu finden. Visa-Regelungen und die Beschaffung von Dokumenten zu erleichtern. Der ukrainische Präsident Selenskyj hat den Unterstützern schon vor Monaten für ihre Arbeit gedankt. Aber: „Um alle Deportierten zurückzubringen, braucht es die Macht der ganzen Welt.“

>>INFO: VORWÜRFE AUF DER UN-VOLLVERSAMMLUNG

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba prangerte am Donnerstag (23. Februar) in einer Rede vor der UN-Vollversammlung in New York die massenhafte Verschleppungen ukrainischer Kinder durch Moskau an. Russland deportiere Tausende Kinder, um sie von russischen Familien adoptieren und zu Russen umerziehen zu lassen. Auch Kuleba sprach in diesem Zusammenhang von „Völkermord“. Moskau hatte ähnliche Vorwürfe zuletzt dementiert.