Essen. Seit Corona leiden immer mehr Menschen unter Depressionen oder Angststörungen. Doch Psychotherapeuten in NRW sind rar. Drei Betroffene erzählen.

Es ist ein Dienstag im Frühsommer 2021, als Julia Segantini auf ihrem Bett liegt und nicht mehr atmen kann. Rückblickend wird sie sagen, dass es ihr schon lange nicht mehr gut ging. Sie ist damals im Masterstudiengang und hat mehrere Jobs auf einmal. „Ich habe den Stress einfach ignoriert“, erinnert sich die 27-Jährige. Jeden Morgen bekommt sie Herzrasen bei dem Gedanken an alles, was sie am Tag schaffen muss. „Irgendwann hatte ich täglich Panikattacken.“

Im Frühsommer bricht sie schließlich zusammen. Eine Freundin fährt sie zur Hausärztin. Erste Diagnose: Burn-out. Julia Segantini ist sich sicher, dass auch die Corona-Zeit damit zu tun hatte. Im Homeoffice sei sie völlig auf sich allein gestellt gewesen, sagt die Essenerin. „Während ich in der Uni gemeinsam mit meinen Kommilitoninnen Mittagspause machte, habe ich die Pausen zuhause meist ausgelassen.“ Noch am Tag der Diagnose beginnt für sie die Suche nach einem Therapieplatz. Eine holprige Suche. Denn Therapieplätze in NRW sind knapp, während der Bedarf bundesweit steigt.

Sieben Monate Wartezeit bei schwerer Depression

Ähnlich ergeht es Simon. Der 31-Jährige erleidet ebenfalls in der Corona-Zeit einen Zusammenbruch. Schon länger geht es ihm nicht sonderlich gut, der fehlende Austausch mit den Kollegen verstärkt das Gefühl. „Alleine im Homeoffice war ich wie auf Autopilot, wenn ich mit jemandem telefoniert habe, ist nichts mehr zu mir durchgedrungen“, erinnert sich der Duisburger, der seinen Namen nicht öffentlich lesen will. „Da wusste ich, etwas stimmt nicht mit mir.“

Simon fährt in eine Düsseldorfer Klinik und wird sofort stationär aufgenommen. Mit der Diagnose: schwere wiederkehrende Depression. Schon während seines anderthalbmonatigen Aufenthalts sucht er nach Therapieplätzen. Nach sieben Monaten Wartezeit bekommt er einen Platz in einer Tagesklinik. Noch einmal fünf Monate wartet er auf einen ambulanten Therapieplatz. Die Zeiten dazwischen waren „beschissen“, sagt Simon, „ich habe ständig in der Luft gehangen“.

NRW-Experten warnen: Versorgung im Ruhrgebiet besorgniserregend

Gerd Höhner, Präsident der Psychotherapeutenkammer in NRW, sagt: „Gerade in der Corona-Pandemie haben Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Essstörungen deutlich zugenommen.“ Vor allem bei jungen Menschen seien die Fallzahlen enorm gestiegen. Höhner: „Kinder und Jugendliche sind stark auf soziale Kontakte angewiesen.“ Aber auch der Ukraine-Krieg erschüttere viele Menschen in ihrer „Grundsicherheit“.

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Die Psychotherapeutenkammer kommt in einem 2021 veröffentlichten Positionspapier zu dem Schluss, dass die Versorgung in NRW „defizitär“ ist. Das Ruhrgebiet sei dabei die am schlechtesten versorgte Region, sagt Höhner. Deutlich mehr Niederlassungen werden benötigt, insbesondere im Bereich der Kinder- und Jugendpsychotherapie.

Betroffene warten im Schnitt 154 Tage auf Therapieplatz

Der hohe Andrang führt zu noch längeren Wartezeiten. Rund 142 Tage dauert es im Bundesdurchschnitt, bis Betroffene nach einem psychotherapeutischen Erstgespräch einen festen Therapieplatz bekommen. Das gab die Bundespsychotherapeutenkammer Anfang Dezember bekannt. In NRW müssten Betroffene durchschnittlich 154 Tage warten.

Die Erstgespräche sind seit 2017 für Psychotherapeutinnen und -therapeuten verpflichtend, um schneller abzuklären, ob Betroffene eine Therapie brauchen. Nicht bei jeder Anfrage gebe es Behandlungsbedarf, so Höhner. Dennoch sei es wichtig, dies therapeutisch abklären zu lassen. „Für die Therapeuten ist es eine Katastrophe, so viele Betroffene abweisen zu müssen, weil die Kapazitäten fehlen.“

Aus diesem Grund sei auch nicht messbar, wie viele Betroffene es in NRW tatsächlich gibt. Die Krankenkassen sowie die Kassenärztliche Vereinigung erfassten ausschließlich die Fälle, die in Behandlung sind.

NRW-Experten fordern mehr Kassensitze für Psychotherapeuten

Das Hauptproblem: Zu wenig niedergelassene Therapeuten bekommen eine Kassenzulassung, um ihre Leistungen mit den Krankenkassen abrechnen zu können – dabei sind in NRW fast alle Sollstellen besetzt. Nur je ein halber Kassensitz ist in Oberhausen und Gütersloh frei. Das geht aus einer Antwort des NRW-Gesundheitsministeriums auf eine Anfrage der SPD hervor, die dieser Redaktion vorliegt.

Demnach sei NRW eigentlich überversorgt. Hier sind 5451 Psychotherapeuten in Vollzeit tätig. Vorgesehen sind lediglich 4022 Kassensitze. Wie lange Betroffene letztlich auf ein Erstgespräch oder einen Therapieplatz warten müssen, könne vom Land nicht gesagt werden. „Es gibt keine strukturierte Erfassung von Wartezeiten für Termine im ambulanten ärztlichen Bereich“, heißt es aus dem Ministerium von Karl-Josef Laumann (CDU).

NRW-SPD: „Brauchen mehr Fachkräfte, Kassensitze, Aufmerksamkeit“

Die SPD wirft der Landesregierung deshalb „Planlosigkeit“ im Umgang mit seelischer Gesundheit vor. „Wir brauchen ein politisches Rezept für die seelische Gesundheit in unserem Land: mehr Fachkräfte, mehr Kassensitze, mehr Aufmerksamkeit“, sagt SPD-Landtagsabgeordneter Rodion Bakum.

Seit langem sei klar, dass die ambulanten Psychotherapeutinnen und -therapeuten am Limit seien. In der Antwort aus Laumanns Haus heißt es, man habe das Bundesgesundheitsministerium darum gebeten, die Pläne des Bundes für eine bessere Versorgung darzustellen. Ein Gesetzentwurf soll demnach innerhalb des ersten Halbjahres 2023 erarbeitet werden.

Gruppentherapie als „Notnagel“

Julia Segantini findet einige Wochen nach ihrem Zusammenbruch nur einen Platz in einer Gruppentherapie – fast alle Praxen in Essen hat sie erfolglos abgeklappert. Die Gruppentherapie ist in Solingen und für Segantini anfangs ein „Notnagel“, auch wegen der eineinhalbstündigen Bahnfahrt. „Es war komisch, meine intimsten Gedanken mit Fremden zu teilen.“ Mittlerweile fühle sie sich wohl, die Fremden seien zu Verbündeten geworden.

Jana hingegen sucht schon seit über sechs Jahren nach einem Therapieplatz – und hat noch immer keinen gefunden. Die Mittzwanzigerin ist sich seit ihrer Teenagerzeit sicher, dass sie an einer Angststörung leidet. Während ihres Studiums verdrängt sie die Gefühle, bis ihre Mutter sie schließlich ermutigt, eine Therapie zu machen. Sätze wie „Es tut uns leid, aber wir haben keinen Platz mehr frei“ liest Jana fast täglich in ihren Mails.

Auf einer Warteliste sind noch 200 Betroffene vor ihr. An Tagen, an denen es ihr besser geht, redet sie sich deshalb ein, keine Hilfe mehr zu brauchen – auch, damit sie nicht mehr suchen muss. Bis ihr Zustand sich wieder verschlechtert. „Meist, wenn ich nachts weinend im Bett lag, habe ich dann doch wieder zum Laptop gegriffen.“ Nur um die nächste Absage zu erhalten.

>>>Info: Seelischer Gesundheit

Fast jeder zweite Mensch in Deutschland leidet im Laufe seines Lebens an einer seelischen Erkrankung, fast 18 Millionen Menschen im Laufe eines Jahres. Nicht einmal jeder Fünfte erhält die notwendige Behandlung. Die Zahlen führt der SPD-Landtagsabgeordnete Rodion Bakum an, der als Arzt für seelische Gesundheit tätig ist.