Bochum/Essen. Zwei Revierkliniken bieten im Rahmen einer Studie Menschen mit Schmerzen das innovative Konzept „Pain2.0“ an: ein ambulantes Kurzzeitprogramm.
Die Schmerzen kamen „über Nacht“, im April 2021. Und sie sind bis heute nicht verschwunden. Sie wurden sogar schlimmer, schlichen sich von der linken Nackenseite zur rechten Schulter, dann hinunter in den Rücken – ohne das sich ein Grund dafür finden ließ: Leon Goldhammer hatte keinen Bandscheibenvorfall, keinen Unfall, keinen Tumor. Weder Medikamente noch Hausarzt, Orthopäde, Physiotherapie oder Chiropraktiker, die der bis dahin fitte, sportliche 24-Jährige nach und nach „abklapperte“, konnten ihm helfen. Wiederholt landete der Heil- und Erziehungspfleger mit besonders heftigen Attacken sogar in der Notaufnahme. Nun ist er Bochums Proband Nummer 1 für die gerade bundesweit gestartete Schmerzstudie „Pain2.0“ – und nach den ersten Gesprächen: „endlich wieder zuversichtlich“.
„28 bis 30 Prozent der Deutschen – fast 25 Millionen Menschen – leiden an chronischen Schmerzen, an lange andauernden Schmerzen, die sich von ihrer konkreten Ursache gelöst haben, die als eigenständiges Problem bestehen bleiben“, erläutert Dr. Dr. Andreas Schwarzer, Leiter der Abteilung für Schmerzmedizin im Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinikum Bergmannsheil in Bochum, einem der 22 regionalen Pain2.0-Zentren. Zehn Prozent aller beruflichen Fehltage gesetzlich Versicherter gingen allein auf Rückenschmerzen zurück – „aber nur fünf bis zehn Prozent von ihnen haben eine klar erkennbare somatische Ursache.“
Chronische Schmerzen verursachen Patientenleid und Kosten
„Chronische Schmerzen verursachen enorme Kosten und enormes Patientenleid“, betont PD Kathrin Bernardy, Chef-Psychologin im Bergmannsheil und dort Leiterin des Pain2.0-Projekts, dessen Kern ein maßgeschneidertes, ambulantes Kurzzeitprogramm ist. Sie hat Patienten gesehen, die ihrer Schmerzen wegen den Arbeitsplatz verloren haben, depressiv wurden, deren Familien darüber auseinander brachen. Und sie sagt: „Die hätten wir früher sehen müssen!“ Ziel von Pain2.0 ist es darum, einzugreifen, bevor es womöglich zu spät ist - bevor aus wiederkehrenden Schmerzen chronische geworden sind. „Wir wollen präventiv wirken, so früh wie möglich“, sagt Bernardy. Zumal die Behandlung mit fortschreitendem „Chronifizierungsprozess“ immer schwieriger werde.
„Lauter unbefriedigende Antworten“, erzählt Leon Goldhammer, habe er erhalten bei seinen vielen Arztbesuchen. Als „stigmatisierend“ empfand er es, aus der Notaufnahme mit der Diagnose „muskuläre Anspannung“ heim geschickt worden zu sein. Da konnte sich der Kraftsportler ja nicht einmal mehr bücken. Die Schmerzen, sie machen ihm zu schaffen, auch wenn er das als junger Mann zunächst gar nicht wahr haben wollte. Es ängstige ihn zudem, sagt Goldhammer, dass er nicht weiß, wo sie herrühren. Rückblickend, sagt er, sei er deswegen wohl „in ein kleines mentales Loch gefallen“.
„Ich hab’s im Rücken, nicht im Kopf“
Das, sagt Andreas Schwarzer, sei typisch. Dass Schmerzpatienten erst im Nachhinein erkennen würden, „da fing das an, da hat sich etwas verändert – und man weiß nie, was Ursache und was Folge ist.“ Die Idee, sich wegen seiner Probleme an eine Psychologin oder einen Psychotherapeuten zu wenden, ist Leon Goldhammer nie gekommen. „Ebenfalls typisch für Schmerzpatienten“, sagt Bernardy. „Die meisten denken, ich hab’s doch im Rücken und nicht im Kopf. Mal ganz abgesehen davon, dass er vermutlich nie einen Termin bekommen hätte, bei den aktuellen Wartelisten der Praxen...“.
Pain2.0 erklärt Schmerzen mit einem „biopsychosozialen“ Modell, das neben körperlichen auch Faktoren wie Arbeitsplatz und Privatleben berücksichtigt. Das „multimodale“ Konzept setzt auf ein Team aus Ärzten, Physio- und Psychotherapeuten. Einmal pro Woche, zehnmal insgesamt, werden diese sich in geschlossenen Gruppen mit sechs bis zehn Probanden für jeweils drei, vier Stunden treffen (ambulant und berufsbegleitend). Im Zentrum der Treffen stehen aktive Übungen und andere präventive Strategien. Dass Bewegung meist mehr hilft als Bettruhe - und vieles mehr zum Thema, lernen die Betroffenen im „theoretischen“ Teil. Es gibt begleitende Einzelgespräche und am Ende eines jedes Treffens Hausaufgaben. Das können krankengymnastische oder Entspannungs-Einheiten sein. „Aber wir werden manchen auch auffordern, ein Schmerz-Tagebuch zu führen, und andere vielleicht, einmal täglich ‘Nein’ zu sagen...“, erklärt Bernardy.
Kein Arzt zuvor hatte gefragt: Wie sehr leiden Sie unter Ihren Schmerzen?
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Zwei, drei Monate nach dem Ende der regelmäßigen Treffen wird zu einer „Booster-Sitzung“ eingeladen, bis zu einem Jahr danach sollen die Probanden „Verlaufsfragebögen“ zu ihrem Befinden ausfüllen. Man werde sich auch um die „Nachsorge“ kümmern, verspricht Schwarzer, „niemanden herzlos rausschicken“.
Eine Tante, selbst Ärztin, machte Leon Goldhammer auf die Studie aufmerksam; er bewarb sich sofort. Der interdisziplinäre Ansatz vor allem überzeugte ihn. „Finde ich super“, sagt der 24-Jährige, „die Kommunikation auf den verschiedenen Ebenen war in meinem Fall oft das Problem“. Kein anderer Arzt zuvor hatte ihn zudem gefragt, wie sehr er unter seinen Schmerzen leide. „Spannend, dass man es hier sofort wissen wollte...“.
22 Schmerzzentren beteiligen sich an der Pain2.0-Studie
Ein erstes telefonisches „Bewerber-Interview“ und das zweistündige „Vorgespräch“ samt Eingangsuntersuchung hat der Bochumer hinter sich. Andere Kandidaten scheitern schon in der ersten Runde. „Sie waren zu krank“, erklärt Bernardy. Einen Anrufer mit einer Rückenmarksentzündung hätten sie sogar sofort stationär aufgenommen… Auch Menschen mit Wirbelbrüchen, „ordentlichen Depressionen“ oder akuten Bandscheibenvorfällen würde man wohl ab- bzw. an Kollegen verweisen müssen, so Schwarzer. „Wenn der Bandscheibenvorfall aber lange zurückliegt und nur der Auslöser der Schmerzen war, passt das wieder.“
1126 Patienten sollen in die Studie unter Federführung von Deutscher Schmerzgesellschaft und Barmer Krankenkasse eingeschlossen werden, 22 regionale Schmerzzentren zwischen Lübeck und Freiburg sind beteiligt. Die noch nicht veröffentlichten Ergebnisse der Vorgänger-Studie „Pain 2020“ lassen offenbar hoffen: Über drei Jahre fließen jetzt rund sieben Millionen Euro öffentlicher Mittel in das Projekt, die abschließende Beurteilung (Evaluation) erfolgt durch externe Experten. Ist sie positiv, soll das innovative Therapiekonzept Regelversorgung werden.
>>> Info: Uniklinikum Essen ist ebenfalls Projektpartner
Im Ruhrgebiet ist neben dem Bochumer Bergmannsheil nur die Essener Universitätsmedizin (UME) Projektpartner von „Pain2.0“. Studienverantwortliche dort ist die Neurologin Prof. Ulrike Bingel, Leiterin des Zentrums fürs Schmerzmedizin. Man sei froh, erklärt sie, diesen innovativen Ansatz anbieten zu können: „Das Projekt Pain 2.0 schließt eine wichtige Versorgungslücke.“
In Bochum wie Essen können sich ab sofort Betroffene über 18 für die Studienteilnahme bewerben. Sie müssen seit mehr als sechs Wochen wiederkehrende Schmerzen haben und darunter leiden oder erste Anzeichen einer Chronifizierung erkennen.
Info:www.pain2punkt0.de
Kontakt in Essen:0201 723- 2364, Email: Stopp-den-Schmerz@uk-essen.de
Kontakt in Bochum: 0234 302-6844, Email: pain2.0@bergmannsheil.de